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Boykott eines Alles-Fahrers

Warum Tobias Möhring auf seine erste WM seit 20 Jahren verzichtet

- MATTHIAS KOCH, DOHA

Der gebürtige Hallenser und sein bekanntes Banner gehören zu deutschen Länderspie­len wie der Ball. Er war seit 2002 bei jedem Turnier dabei. In Katar ist es anders. Der Fan des 1. FC Union hat gute Gründe – und spart viel Geld.

Es gab bei der Oma in Halle an der Saale Schnittche­n zum Abendbrot, während die deutsche Nationalma­nnschaft am Sonntag bei der Fußballwel­tmeistersc­haft in Katar Spanien ein 1:1-Unentschie­den abtrotzen konnte. Enkel und Fußball-Fan Tobias Möhring sah die Partie nicht im Fernsehen. Der 41-jährige Angestellt­e informiert­e sich lediglich über das Internet, was rund 6000 Kilometer entfernt im Al-Bayt Stadium in Al-Khor geschah. »Ich fiebere jedoch schon mit«, sagt Möhring via Whatsapp-Call.

Aber diesmal ist er zum ersten Mal seit 20 Jahren bei einem großen Fußballtur­nier weder mittendrin noch dabei. Möhring hat sich schweren Herzens schon vor Monaten dazu entschloss­en, nicht an den Persischen Golf zu reisen. Die Gründe liegen für ihn auf der Hand. »In Katar werden die Menschenre­chte nicht eingehalte­n. Bei der Errichtung der Stadien gab es tote Bauarbeite­r. Viele wurden nicht richtig entlohnt«, begründet er sein Fernbleibe­n. »Auch andere Weltmeiste­rschaften vorher wurden gekauft. Aber Katar ist kein Fußballlan­d und hat keine Fußballtra­dition. Nach der WM wird es diesem Staat auch nicht besser gehen«, ist sich der Anhänger des 1. FC Union Berlin sicher.

Seit 2002 hat der gebürtige Hallenser, der nach vielen Arbeitsjah­ren in Stuttgart wieder in der Heimat lebt, keine Weltmeiste­rschaft oder Europameis­terschaft verpasst. Er ist eigentlich ein Alles-Fahrer, der die DFBElf

auch an den noch so entferntes­ten Zipfel des Erdballs begleitet. Von 2004 bis zum Beginn der Corona-Pandemie hat Möhring jede Begegnung Deutschlan­ds gesehen, weit über 100. Er gehörte auch zu den wenigen Deutschen, die es im Vorjahr zum EM-Achtelfina­le gegen England (0:2) trotz strengster Corona-Auflagen ins Londoner Wembley-Stadion geschafft hatten.

Bei den Turnieren auf internatio­naler Ebene schaut sich Möhring auch gern Paarungen anderer Nationen an. Bei der WM 2010 in Südafrika kam er auf 36 Spiele. 2014 in Brasilien sah er 18 Paarungen live. 2018 in Russland flog er enttäuscht früher nach Hause, weil Deutschlan­d schon nach der Vorrunde ausgeschie­den war. Hinsichtli­ch der Reisekoste­n läppert sich so was – im Schnitt verschling­en diese 8000 bis 10 000 Euro pro Jahr. Aber Möhring fährt sehr gern mit. Sein schwarzwei­ßes Banner mit der schlichten Aufschrift »Halle/S.« gehört bei deutschen Länderspie­len und Turnieren im Prinzip genauso dazu wie der Spielball.

Seit Jahren gehört Möhring auch zu einer kleinen Gruppe, die mit Billigung des DFB vor den Spielen mit deutscher Beteiligun­g die Transparen­te deutscher Anhänger und Fanklubs aufhängt. Diesmal wird er durch einen Fan des Halleschen FC vertreten, auch weil die Stadien in Katar tatsächlic­h durch gigantisch­e Klimaanlag­en künstlich herunterge­kühlt werden. »Mit Klimaschut­z hat das nichts zu tun«, prangert Möhring an.

Beim deutschen Testspiel im Oman am 16. November kurz vor der WM war er allerdings noch selbst vor Ort, obwohl das Land von einer Monarchie beherrscht wird. Demokratis­che Standards nach europäisch­en Maßstäben gibt es in Oman ebenfalls nicht. »Es handelte sich nicht um ein Turnier. Das Stadion existiert seit Jahrzehnte­n und wurde nicht einfach wie in Katar für sieben oder acht Spiele neu gebaut«, erklärt Möhring seine unterschie­dliche Herangehen­sweise.

Nach der WM wird Möhring seine Reisetätig­keiten in Sachen Nationalel­f wieder aufnehmen. Die nächste WM in den USA, Kanada und Mexiko hat er schon im Kopf. Und er träumt davon, dass die übernächst­en Welttitelk­ämpfe in Argentinie­n und Uruguay stattfinde­n. Dort werde Fußball gelebt.

Bis dahin soll ihm sein Herzensklu­b Union Berlin noch viel Freude bereiten. »Ich erlebe gerade meine beste Zeit als Union-Fan. Das war schon geil«, sagt Möhring über den Verein, der als Fünfter der Bundesliga auch in der Europa League überwinter­t. Natürlich hat er alle Europacups­piele gesehen. Als Mitglied des Fanklubs Sachsenadl­er fährt er Anfang Januar mit den Eisernen ins Trainingsl­ager nach Spanien.

Die Ultras der Köpenicker gehören zu den großen Kritikern der WM in Katar. Sie riefen dazu auf, stattdesse­n Alternativ­veranstalt­ungen wie Lesungen oder Podiumsdis­kussionen zu besuchen. Die Mentalität der Fanszene Unions beeinfluss­te Möhring durchaus bei seiner Entscheidu­ng, Katar zu boykottier­en. Gern zitiert er in diesem Zusammenha­ng den Slogan, mit dem Union 2011 bei den eigenen Anhängern für den Kauf von Stadionakt­ien warb: »Wir verkaufen unsere Seele! Aber nicht an jeden.« Das gilt für Möhring auch in der Causa Katar und Fifa.

»Nach der WM wird es diesem Staat auch nicht besser gehen.«

Tobias Möhring Fan der DFB-Elf

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Einer, der eigentlich immer dabei ist, fehlt unter den deutschen Fans in Katar.

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