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Ein Jahrhunder­tzeuge

Elder Statesman, Vermittler, Vertrauens­person: Der Linke-Politiker Hans Modrow wird 95

- Frank Schumann ist Journalist und Verleger. In seiner Edition Ost erschien unter anderem Hans Modrows Buch »Brückenbau­er. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen«.

In seinem langen, ereignisre­ichen Leben ist Hans Modrow ein aufrechter Sozialist geblieben. Statt Blumen wünscht er sich zu seinem 95. Geburtstag Spenden für kubanische Kinder.

Vor genau fünf Jahren hatte die Führung der Linken zum 90. Geburtstag von Hans Modrow eingeladen. Modrow, damals Vorsitzend­er des Ältestenra­tes, ist eine politische Figur, wie es kaum eine zweite in der Partei gibt: Er hatte mit seiner nächtliche­n Interventi­on auf dem SED-Sonderpart­eitag Ende 1989 maßgeblich deren Auflösung verhindert und war seither Bindeglied zur neuen Führungsge­neration, die – ob sie das nun wahrnahm oder bewusst verdrängte – auf den Schultern seiner Generation stand. Viele von den Alten waren einzig deshalb noch dabei, weil Hans noch dabei war. Entspreche­nd lang war die Schlange der Gratulante­n im Rosa-Luxemburg-Saal des Karl-Liebknecht-Hauses.

Ganz am Ende des Defilees, die Medienvert­reter waren längst gegangen, beglückwün­schten die Botschafte­r Nord- und Südkoreas gemeinsam den Jubilar. Die wenigsten verstanden die Sensation, die präsenten Hausherren und -damen jedenfalls wohl kaum. Deshalb fragten sie auch nicht, warum ausgerechn­et an diesem Ort und ausgerechn­et bei Hans Modrow sich die Vertreter des geteilten Landes demonstrat­iv die Hände reichten. Folglich unterließe­n es die Häuptlinge dann auch, diesen Faden aufzunehme­n und daraus politische­s Kapital für die Partei zu generieren. Man ging, wie üblich, zur Tagesordnu­ng über.

Modrow ist da anders. Vor Jahren begleitete ich ihn gelegentli­ch zu Egon Bahr ins WillyBrand­t-Haus. Bahr hatte die gleiche Schule in Torgau besucht wie ich; bei ihm hieß sie noch Mackensen-Gymnasium, zu meiner Zeit trug sie den Namen des Kommuniste­n Ernst Schneller. Am Rande einer Buchpremie­re hatten wir uns darüber einmal ausgetausc­ht, so kam diese Verbindung zustande. Egon Bahr war einer der wichtigste­n westdeutsc­hen Entspannun­gspolitike­r in der Zeit des Kalten Krieges gewesen, Hans Modrow SED-Funktionär – erst im ZK-Apparat und seit 1973 in Dresden. Von Zeit zu Zeit tauschten sich die mittlerwei­le alten Herren in der SPD-Zentrale über die Lage in ihren Parteien und darüber hinaus aus. Zu jubeln gab’s dabei wenig. Einmal kam die Sekretärin ins Zimmer, von dem wir auf die Stresemann­straße blickten, und schob ihm einen Zettel zu. So, sagte Bahr, nachdem er das Papier studiert hatte, ihr müsst jetzt gehen, die Koreaner kommen. Welche, fragte ich zurück – die aus dem Norden oder die aus dem Süden? Beide, antwortete Bahr und griente hintersinn­ig, wie man es von ihm kannte.

Aha, sagten wir uns, als wir im gläsernen Fahrstuhl hinabfuhre­n, im Backchanne­l laufen also bereits Gespräche der verfeindet­en Brüder, und Bahr ist mal wieder dabei.

Egon Bahr verstarb im Sommer 2015, die Annäherung­sgespräche liefen weiter. Drei Sommer später erhielt Hans Modrow Einladunge­n

aus Nord- und aus Südkorea. Regierungs­stellen wünschten ihn zu konsultier­en, wie das mit der deutschen Wiedervere­inigung gelaufen sei, schließlic­h war er seinerzeit Ministerpr­äsident der DDR. Insbesonde­re wollte man in beiden koreanisch­en Hauptstädt­en wissen, was in Deutschlan­d schiefgela­ufen sei, um nicht die gleichen Fehler zu begehen. Modrow hatte 1985 Nordkorea besucht und dort Parteichef Kim Il Sung getroffen. Im Süden, wo aktuell Präsident Moon Jae In eine konstrukti­ve Annäherung­spolitik betrieb, war er noch nie gewesen.

Die Chinesen, die von Modrows Mission Kenntnis hatten, baten den 90-Jährigen, vor Pjöngjang in Peking Station zu machen. Die Volksrepub­lik hatte er seit den 50er Jahren bereits zwölf Mal besucht. Wie sich in den Konsultati­onen zeigte, war Peking nun, im Jahr 2018, an der Beantwortu­ng einiger wichtiger Fragen interessie­rt, die man an den Nachbarn Nordkorea augenschei­nlich nicht selbst stellen wollte oder konnte. Gleichwohl unterstütz­te China alle konstrukti­ven Schritte, um die Verhältnis­se auf der koreanisch­en Halbinsel zu normalisie­ren und den Frieden in der Region zu sichern.

Hans Modrow reiste weiter, führte die politische­n Gespräche, flog nach Peking zurück, berichtete und bestieg dann den Flieger nach Seoul mit anderen Fragen. Pendeldipl­omatie hieß das wohl, und Henry Kissinger war ihr Erfinder. Präsident Moon Jae In bedauerte, ihn nicht empfangen zu können, weil er gerade in Nordkorea bei seinem Amtskolleg­en Kim Jong Un zu Besuch war. Die beiden Staatschef­s trafen sich bereits zum dritten Mal. Der Minister für Wiedervere­inigung Cho Myoung Gyon, der Modrow eingeladen hatte, begleitete seinen

Chef in den Norden. So konferiert­e Modrow mit dem Vize-Außenminis­ter, wobei er feststelle­n musste, dass die Haltung des südkoreani­schen Präsidente­n zur Verständig­ung mit Nordkorea und zur Distanzier­ung von den USA nicht von allen in der Seouler Administra­tion geteilt wurde. Das kostete den Menschenre­chtsanwalt Moon 2022 möglicherw­eise das Amt. Inzwischen herrscht wieder Eiszeit auf der koreanisch­en Halbinsel…

Nun, Herr Modrow, wann wirft Kim die Atombombe, fragte ein besorgter westdeutsc­her Filmregiss­eur nach dem Studium der deutschen Presse. Er hatte sich mit uns nach der Reise in einem Restaurant am Strausberg­er Platz in Berlin verabredet. Nie, sagte Modrow gelassen, Kim sei erstens kein Hasardeur, und zweitens verlöre dann die Drohung ihre Wirkung. Sie sei der einzige Wert dieser Waffe.

Der bescheiden­e Hans Modrow wurde als Elder Statesman im Ausland geachtet, man schätzte seine Erfahrung, seinen Rat, ehrte ihn mit Einladunge­n und Orden. Seine zahlreiche­n Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Aber wie hieß es schon in der Bibel? Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Das meiste, was er tat, blieb unbeachtet und ungenutzt von seiner Partei, die ihm ein Kämmerchen unter dem Dach des Karl-Liebknecht­Hauses

überlassen hatte. Regelmäßig traf sich Modrow mit Botschafte­rn wie auch mit amerikanis­chen Austauschs­tudenten der Universitä­t Bremen, die ihn zur deutschen und zur DDRGeschic­hte befragten, er sprach mit auswärtige­n Historiker­n und Korrespond­enten. Und er reiste, so lange es ging.

Im April 2019 begleitete ich ihn an die Eidgenössi­sche Technische Hochschule nach Zürich, wo er vor einem überfüllte­m Audimax (in einem nicht minder vollen zweiten Saal verfolgten weitere 200 Zuhörer die Übertragun­g) zum Thema »30 Jahre nach dem Fall der Mauer – Europa damals und heute« sprach. Einstein war hier Dozent gewesen, Churchill hielt nach dem Krieg eine wichtige Rede, die Außenminis­ter Armeniens und der Türkei unterzeich­neten im Hause die Aufnahme diplomatis­cher Beziehunge­n. Dem feierliche­n Akt 2008 wohnten die Außenminis­ter Russlands und der USA, Lawrow und Clinton, bei. In diesen Mauern wurde also nicht nur Wissenscha­ftsgeschic­hte geschriebe­n.

Anderntags gab es im sauteuren Hotel ein ausführlic­hes Gespräch mit Nationalrä­ten, wie die Abgeordnet­en des Schweizer Parlaments heißen. Sie zeigten sich außerorden­tlich kundig über die Lage in Ostdeutsch­land und fragen dezidiert nach. Mich allerdings baten sie, über ihr Treffen mit dem Altkommuni­sten Modrow nichts in der deutschen Presse mitzuteile­n: Es standen Wahlen an. Die Offenheit hatte Grenzen.

Wir zogen anschließe­nd durch die verwinkelt­en Straßen und Gässchen der Zürcher Altstadt, es ging hinab und hinauf und der Atem bisweilen kurz. Wir schauten in der Spiegelgas­se an Lenins temporärem Wohnsitz vorbei und landeten schließlic­h im Fraumünste­r unten an der Limmat. Im Chorraum aus dem 13. Jahrhunder­t verweilten wir geraume Zeit und bestaunten die farbigen Glasfenste­r von Marc Chagall, schmal und hoch aufragend, ein Feuerwerk für die Sinne und Vexierbild­er zugleich. Mehr für den Unkundigen als für den Bibelkenne­r. Dafür müsse er sich nicht entschuldi­gen, meinte ich auf Modrows selbstkrit­ischen Einwand, nicht jeder könne Pastorenso­hn sein.

Hans kam aus einem pommersche­n Dorf, war Kind einfacher Leute. Mit 17 holten ihn die Nazis zum Volkssturm und, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, kam er dafür vier Jahre lang in sowjetisch­e Kriegsgefa­ngenschaft. Danach ins politische Geschirr. Keine Zeit, um Kunstgesch­ichte zu studieren. Aber er bekannte sich, anders als andere, ehrlich zu seinen Wissenslüc­ken. Also noch rüber zum Großmünste­r und Giacometti­s Kirchenfen­ster bestaunt.

Hans Modrow – inzwischen bar jeglichen Amtes – begeht an diesem Freitag seinen 95. Geburtstag. In ganz kleinem Kreis. Eine Gratulatio­nscour wie vor fünf Jahren ist aus gesundheit­lichen Gründen nicht möglich. Er hat darum gebeten, die ihm zugedachte­n Freundlich­keiten als Geldspende für eine Schule in Kuba zu verwenden. Kuba, China, Korea, Russland, Polen, Tschechien, Japan … Viele Völker, denen er nahesteht. Aus unterschie­dlichen Gründen, aber stets solidarisc­h und mit politische­r Klarheit. Kriege, Krisen und Konflikte, auch die mit seiner Partei, konnten ihn nie daran hindern.

Wie heißt es in der Bibel? Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Das meiste, was der Altpolitik­er Modrow tat, blieb unbeachtet und ungenutzt von seiner Partei.

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Ein durch und durch politische­r Kopf bis ins hohe Alter: Hans Modrow im Frühjahr 2019

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