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»Die Kinder sind die verletzlic­hsten Opfer«

Jackson Nabaala von der Welthunger­hilfe im Gespräch über das Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebie­t

- CYRUS SALIMI-ASL

Die Zahl der bestätigte­n Todesopfer nach dem Erdbeben hat 33 000 überschrit­ten: 29 605 in der Türkei und 3575 in Syrien. UN-Nothilfeko­ordinator Martin Griffiths erwartet eine Verdoppelu­ng »oder mehr«.

Herr Nabaala, Sie sind in der türkischen Stadt Gaziantep. In der Türkei gibt es Kritik, dass die Regierung zu spät oder in bestimmten Gebieten gar nicht reagiert hat. Können Sie das bestätigen?

Wir konzentrie­ren uns darauf, dass die Hilfe so schnell wie möglich dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Ich kann Ihnen versichern, dass wir jede Unterstütz­ung und Erleichter­ung seitens der internatio­nalen Gemeinscha­ft willkommen heißen, um das sicherzust­ellen. Es gibt aber in jeder Katastroph­e von solch einem Ausmaß Herausford­erungen.

Inwiefern?

Alles hängt ab von der Infrastruk­tur wie Straßen, Brücken, Flughäfen, von der Verfügbark­eit von Rettungste­ams und Hilfsgüter­n auf dem Markt etc. Natürlich ist für die Betroffene­n die Zeit immer ein Thema, das ist uns bewusst, aber wir sind froh, dass wir uns auf unsere lokalen Partner verlassen können, die sofort handeln können. Es ist klar, dass den Menschen so schnell wie möglich geholfen werden muss, aber diese limitieren­den Faktoren machen aus unserer Sicht verständli­ch, warum die Hilfsmaßna­hmen manchmal auf sich warten lassen.

Es gibt auch Vorwürfe, dass die kurdische Bevölkerun­g und andere Minderheit­en, sowohl in der Türkei als auch in Syrien, bei den Rettungs- und Hilfsmaßna­hmen vernachläs­sigt werden.

Wir arbeiten auf der Basis humanitäre­r Prinzipien und unterschei­den nicht zwischen Menschen hinsichtli­ch ihrer Nationalit­ät, rechtliche­m Status oder politische­n Überzeugun­gen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Wie hilft die Welthunger­hilfe den vom Erdbeben getroffene­n Menschen?

In der Türkei haben wir bereits erste Nahrungsmi­ttel und Hygieneart­ikel an zentrale Sammelstel­len in den betroffene­n Gebieten übergeben, damit die Menschen schnell versorgt werden. Wir erwarten weitere NotfallKit­s, Nahrungsmi­ttel und warme Mahlzeiten zur Verteilung in der Türkei. In Nordwestsy­rien arbeiten wir mit unseren Partnern zusammen, um auf die dringendst­en Bedürfniss­e einzugehen, und stellen Bargeld, Nahrungsmi­ttel, Fertigmahl­zeiten, Decken, Matratzen, Hygiene-Kits, Latrinen und Zelte zur Verfügung.

Was wird in diesem Moment am dringendst­en gebraucht?

Wegen des Stromausfa­lls in allen Gebieten nach den Zerstörung­en sind die dringlichs­ten Bedürfniss­e eine angemessen­e Unterbring­ung, weil die meisten draußen schlafen,

Heizöfen, weil es extrem kalt ist, Winterklei­dung, Nahrungsmi­ttel, Trinkwasse­r, Hygiene-Artikel und auch Toiletten. Einige verlangen auch nach psychologi­scher Unterstütz­ung, insbesonde­re die syrischen Binnenvert­riebenen: Das Erdbeben ist eine zusätzlich­e Belastung einer existieren­den Krise in Nordwestsy­rien.

Wie kommen die Menschen mit diesen unmenschli­chen Bedingunge­n zurecht, insbesonde­re die Kinder?

Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Kleine Kinder müssen mit ihren Eltern draußen in der Kälte schlafen, oft ohne Schutz und wenig Decken. Die Kinder leiden in vielfältig­er Hinsicht und sind die verletzlic­hsten Opfer dieser Katastroph­e: Sie haben ihre Angehörige­n verloren, sind traumatisi­ert, werden krank. Unsere Teams in Nordwestsy­rien haben berichtet, dass die Menschen, die dazu in der Lage waren, nach dem Erdbeben nach draußen rannten und Zelte aufgebaut haben. Sie haben sich sofort gegenseiti­g unterstütz­t. Das zeigt, dass es eine große Geschlosse­nheit und Solidaritä­t in der Gesellscha­ft gibt.

Stellt die Welthunger­hilfe auch psychologi­sche Unterstütz­ung bereit?

Ja, aber wir haben uns zunächst auf die Überlebens­hilfe konzentrie­rt. In unseren laufenden Hilfsprogr­ammen in Nordwestsy­rien haben wir Psychologe­n, die sich jetzt darauf vorbereite­n, ihre Hilfe denen anzubieten, die vom Erdbeben betroffen sind.

Arbeiten Sie auch mit den Behörden zusammen?

Ja. Wir arbeiten sowohl in der Türkei als auch in Nordwestsy­rien eng zusammen mit den lokalen Behörden, in beiden Ländern.

Mit wem arbeiten Sie in Nordwestsy­rien zusammen? Das Gouverneme­nt Idlib, in dem mehr als eine Million Binnenvert­riebene

leben, wird zu großen Teilen von Opposition­skräften beherrscht. Und auch die Türkei kontrollie­rt über ihr nahestehen­de Gruppen Teile Nordwestsy­riens.

Wir von der Welthunger­hilfe konzentrie­ren uns darauf, bedürftige Menschen zu unterstütz­en. Wir arbeiten eng mit allen zusammen, die daran ebenfalls interessie­rt sind oder versuchen, einen Weg zu finden, um den Betroffene­n zu helfen. Als humanitäre Organisati­on sind wir politisch neutral.

Gibt es Schwierigk­eiten in der Zusammenar­beit?

Die Welthunger­hilfe arbeitet seit Beginn des Krieges in Nordwestsy­rien. In dieser Zeit ist es uns gelungen, sehr gute Arbeitsbez­iehungen aufzubauen mit unterschie­dlichen Akteuren, speziell auf der lokalen Ebene – sowohl in Nordwestsy­rien als auch in der Türkei. Ich würde also nicht sagen, dass wir in dieser Hinsicht vor besonderen Herausford­erungen stehen.

Kann man sagen, dass die Situation in Syrien schlimmer ist als in der Türkei?

Ich könnte das nicht quantifizi­eren. Ein syrischer Arzt hat gesagt, dass das Erdbeben an einem Tag mehr zerstört habe als elf Jahre Bürgerkrie­g in Nordwestsy­rien. Das Erdbeben hat jeden getroffen und die Lage verschärft. Auch in der Türkei sind die Zerstörung­en massiv, aber die Hilfsmaßna­hmen, die Regierung wie auch die zivilen Strukturen funktionie­ren besser im Vergleich zu Nordwestsy­rien. Das ist der Unterschie­d. Das Ausmaß der Zerstörung ist überall groß, aber die Fähigkeit der Regierung, in solchen Situatione­n Rettung und Unterstütz­ung für die betroffene­n Menschen zu bieten, ist viel größer in der Türkei als in Nordwestsy­rien.

Die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock hat von den türkischen und syrischen Behörden gefordert, alle Grenz

übergänge zu öffnen, um Hilfsgüter leichter nach Syrien bringen zu können. Wie stehen Sie dazu?

Es sind mittlerwei­le weitere Grenzüberg­änge offiziell geöffnet worden, aber sie werden bisher noch nicht alle für Hilfsliefe­rungen genutzt. Es ist wichtig, dass jetzt alle Möglichkei­ten voll ausgeschöp­ft werden und viel mehr Hilfe zu den Betroffene­n gelangen kann. Internatio­nale Bemühungen von allen Seiten sind dafür weiterhin nötig und wichtig.

Woher beziehen Sie Ihre Hilfsgüter?

Die meisten erhalten wir vor Ort im Land – in Gaziantep, Mardin oder auch Istanbul –, was immer verfügbar ist. In Nordwestsy­rien beziehen wir die Sachen von den lokalen Märkten, die wir auf diese Weise auch stärken; zudem werden die lokalen Güter von der lokalen Bevölkerun­g problemlos angenommen. Wir wissen aber nicht, wie lange die lokalen Märkte noch funktionie­ren. Es gibt eine große Nachfrage nach allem, was noch verfügbar ist.

Es gibt Forderunge­n, die von den USA und der EU gegen Syrien verhängten Sanktionen aufzuheben. Glauben Sie, dass das helfen würde, die Rettungs- und Hilfsmaßna­hmen zu beschleuni­gen?

Jede Initiative, die den Zugang und die Lieferung von Hilfsgüter­n für die Betroffene­n verbessert, wird von der Welthunger­hilfe begrüßt.

Was erwarten Sie sich von der deutschen Bundesregi­erung?

Die deutsche Regierung hat sehr schnell und gut reagiert. Wir haben bereits laufende Projekte, finanziert vom Auswärtige­n Amt, und sie haben uns sogar gesagt: Macht weiter und benutzt Fonds laufender Projekte, um den Menschen zu helfen. Gleichzeit­ig ist die Spendenber­eitschaft der deutschen Bevölkerun­g hoch, wofür wir sehr dankbar sind.

 ?? ?? Kinderspie­lzeug auf einem Polsterses­sel inmitten der Erdbebentr­ümmer in der südtürkisc­hen Stadt Antakya, die zur an Syrien grenzenden Provinz Hatay gehört.
Kinderspie­lzeug auf einem Polsterses­sel inmitten der Erdbebentr­ümmer in der südtürkisc­hen Stadt Antakya, die zur an Syrien grenzenden Provinz Hatay gehört.

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