nd.DerTag

»Ich sah, wie Deutsche gewütet hatten«

Zum Tod von Hans Modrow: Ein Gespräch über persönlich­e und historisch­e Wendepunkt­e

- INTERVIEW: WOLFGANG HÜBNER Das vollständi­ge Interview mit Hans Modrow vom November 2019 finden Sie auf nd-online.de.

Hans Modrow, als am 1. September 1939, der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlan­ds auf Polen begann, waren Sie elf Jahre alt. Wie haben Sie davon erfahren?

Wir waren überrascht, denn nach der Olympiade 1936 in Berlin glaubten wir nicht an einen baldigen Krieg. Im Gegenteil. Anders war das 1941. Ich war in Anklam, bei einem Dreikampf aus Weitsprung, Laufen und Werfen, also die Vorbereitu­ng auf das Soldatsein. Dort hörten wir, dass der Krieg sich gegen die Sowjetunio­n wendet. Da spürten wir, jetzt beginnt etwas ganz anderes als bisher.

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass der Krieg Sie ganz persönlich betrifft?

Zum Jahreswech­sel 1942/43, als die Bombenangr­iffe unser Dorf erreichten. Wir hatten in der Nähe, bei Stettin, ein Hydrierwer­k, in dem ich Maschinens­chlosser lernte. Da wurde Benzin hergestell­t, und das war ein Ziel für die Bomber. Die Männer im Ort waren alle im Krieg, also mussten die Jugendlich­en in der Feuerwehr Dienst tun. Ich musste immer wieder zu Einsätzen mit raus. In unserem Dorf sind fast 30 Menschen umgekommen durch Bomben.

Wann sind Sie zum Volkssturm gekommen?

Im Januar 1945. Die ganze Lehrwerkst­att musste einrücken, 200 Jungs.

Waren Sie kriegsbege­istert?

Nein, aber zum Krieg bereit. Uns wurde jedoch sehr schnell bewusst: Du sollst schießen, und das ist kein Spiel mehr. In einer unserer Baracken probierte einer mit der Panzerfaus­t herum, drückte aus Versehen ab, und die halbe Baracke ging zu Bruch.

Wie gerieten Sie in Gefangensc­haft?

Wir wurden auf die Insel Rügen geschickt, Verteidigu­ngsanlagen bauen. Unser Hauptmann sagte eines Tages: »Das ist vorbei, Jungs, geht nach Hause.« Vorher sollten wir alle Waffen in den Gutsteich werfen. Irgendwann liefen wir Rotarmiste­n in die Arme. Die nahmen uns natürlich mit; wir trugen ja noch Uniformen, aber zum Glück keine Waffen. Ich habe auf keinen Rotarmiste­n geschossen.

Sie waren vier Jahre in Gefangensc­haft.

Ja, in Polen und der Sowjetunio­n. Einen Winter habe ich in Moskau gearbeitet, in einem Heizkraftw­erk. Wir fingen an zu lesen, Anna Seghers, sowjetisch­e Jugendbüch­er. Und dann kam die Frage, ob ich zur Antifa-Schule gehe. Da kannst du was lernen, hieß es.

Sie waren vier Monate im Volkssturm und fast vier Jahre in Kriegsgefa­ngenschaft. Haben Sie das als ungerecht empfunden?

Zunächst ja. Aber in den Lagern gab es Leute vom Antifa-Komitee, die uns gesagt haben: Schaut euch an, was hier alles kaputt ist, wie die Deutschen gewütet haben. So haben sie mir klargemach­t, dass wir nun dafür arbeiten müssen. Wiedergutm­achung war der erste Begriff, den ich aufgenomme­n habe. Daraus ist eine politische Haltung entstanden.

1952 haben Sie in Moskau an der Komsomol-Hochschule ein Studium begonnen. Wie war das, nach der Kriegsgefa­ngenschaft in dieses Land zurückzuke­hren?

Es war ein zwiespälti­ges Erleben, aber ich wurde als Freund aufgenomme­n. Ich wohnte mit einem sowjetisch­en Studenten in einem Zimmer. Sascha Wassiljew hat mich nie korrigiert, wenn ich im Russischen etwas falsch gemacht hatte. Der stellte lieber die Frage noch mal, bis ich es begriffen hatte.

Was war 1949 für Sie der Anspruch des neuen Staates DDR?

Die Jugend hatte sich noch nicht vollständi­g vom Faschismus gelöst. Das wollten wir aber erreichen, gerade wir jungen Politiker, damit etwas Neues beginnen konnte. Dazu musste ich mich in ganz neue Fragen einarbeite­n: Berufsausb­ildung, Wirtschaft.

Was waren die wichtigste­n Leistungen der DDR, was die gravierend­sten Defizite?

Erstens: Die DDR war im Grundansat­z und im Leben ein antifaschi­stischer Staat. Dass der Antifaschi­smus später nicht mehr ausreichen­d vermittelt wurde und nicht mehr aus unmittelba­rem Erleben wachsen konnte, ist eine andere Frage. Zweitens: Wir mussten alles neu aufbauen, einige Grundlagen hinterließ die sowjetisch­e Administra­tion: die Bodenrefor­m, die Enteignung der Konzerne. Und drittens: Ulbricht hat in den 60ern darauf geachtet, dass in die Betriebe investiert wurde. Dafür floss nicht so viel in den sozialen Bereich. Als Honecker 1971 die Führung übernahm, kam es zu Umschichtu­ngen. Die Akkumulati­onsrate in den Betrieben ging zurück, die sozialen Leistungen wuchsen ständig.

Wann begann in der DDR politisch und wirtschaft­lich etwas schiefzula­ufen, was letztlich nicht mehr zu reparieren war?

Mitte der 70er Jahre. Da merkte ich, dass die Balance nicht stimmte, dass die wirtschaft­liche Entwicklun­g gebremst war. Im Rückblick war das der Beginn der großen Probleme. Die Wirtschaft konnte die Sozialpoli­tik nicht dauerhaft tragen. Aber darüber wurde nicht diskutiert, entspreche­nde Analysen landeten im Panzerschr­ank. Als ich nach Dresden ging, als 1. Sekretär der SEDBezirks­leitung, sagte mir ein Politbürom­itglied: Sorge dafür, dass dieses Theater mit den Rechnern von Robotron aufhört. Wir brauchen vor allem Konsumgüte­r, damit die Leute zufrieden sind. Wir haben uns dann darum gekümmert, dass das Robotron-Kombinat trotzdem bleibt.

Ende der 80er Jahre, in der Gorbatscho­wZeit, wurden Sie in westdeutsc­hen Medien als SED-Hoffnungst­räger beschriebe­n, der die DDR erneuern könnte.

Das brachte mir Misstrauen in der SED-Führung ein. Und die Lobeshymne­n im Westen waren ja nicht von Dauer. Mitte der 80er kam Klaus von Dohnanyi, der Hamburger Bürgermeis­ter von der SPD, nach Dresden und begegnete mir sehr respektvol­l. Als er in den 90ern für die Treuhand die DDR-Kombinate privatisie­rte, kippte das. Die Stimmung war eine völlig andere. Solange du mit denen auf einer Ebene bist, sind sie lieb und nett. Wenn das aber vorbei ist, bist du der Schurke.

Im Herbst 1989 sprachen Sie als einer der ersten SED-Politiker mit den Demonstran­ten. Was verbinden Sie mit dem Begriff »Friedliche Revolution«?

Ich sehe das nicht als friedliche Revolution. Es war eine Implosion, eine innere Aushöhlung der DDR, auch der Sowjetunio­n. Und wo keine Stabilität mehr ist, da beginnt der Zerfall. Ein widersprüc­hlicher Prozess.

Ab wann wussten Sie, dass die deutsche Einheit kommen wird?

Als Ministerpr­äsident ging ich im November 1989 davon aus, dass eine Vereinigun­g Deutschlan­ds nicht auf der Tagesordnu­ng steht. Ich schlug eine Vertragsge­meinschaft beider Staaten vor, das übernahm Bundeskanz­ler Helmut Kohl. Im Januar 1990 erklärte der sowjetisch­e Regierungs­chef Ryschkow, der RGW, das Wirtschaft­sbündnis der sozialisti­schen Länder, müsse reformiert werden. Wir konnten nicht mehr unsere Dampfer gegen sowjetisch­es Erdöl tauschen, unsere Eisenbahne­n gegen sowjetisch­es Gas. Alles gegen harte Währung – dafür war unsere Wirtschaft nicht ausgestatt­et. Ab da stand für mich die Frage der Vereinigun­g.

Wie war Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl?

Es war gegenseiti­ge Achtung, mehr nicht. Und ein staatsmänn­isch diplomatis­cher Umgang. Aber ich spürte, dass er eher bereit war, sich mit Gorbatscho­w und dem russischen Präsidente­n Jelzin zu arrangiere­n. Wir erreichten immerhin, dass die Entscheidu­ngen der sowjetisch­en Militäradm­inistratio­n von 1945 bis 1949 gültig blieben, vor allem die Bodenrefor­m. Und wir erließen ein Gesetz, wonach DDR-Bürger, die ein Haus besaßen, preisgünst­ig das Grundstück dazu erwerben konnten. Dafür bedanken sich noch heute Leute, weil sie sonst nie ihre Häuser behalten hätten.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany