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Ein Dauerläufe­r

Hans Modrow war bis ins hohe Alter politisch aktiv

- Wolfgang Hübner Lesen Se auch auf nd-online.de: Hans Modrow – ein Jahrhunder­tzeuge. Persönlich­e Erinnerung­en des Verlegers Frank Schumann.

Hans Modrow ist ein Phänomen: Nicht mal ein halbes Jahr war er Regierungs­chef eines untergehen­den Staates; das ist fast 35 Jahre her. Andere Kurzzeit-Protagonis­ten aus jenen Zeiten sind längst vergessen, sein Name ist noch immer ein Begriff. Denn als Modrow Ministerpr­äsident der DDR war – von November 1989 bis März 1990 –, wurde Weltgeschi­chte geschriebe­n. Und er war mittendrin. Er versuchte die DDR in eine bessere Zukunft hinüberzur­etten, aber das war vergeblich. Der mächtige Bonner Kanzler Helmut Kohl neben dem schmächtig­en Ostberline­r Premier Hans Modrow – das sind die Verhältnis­se der deutschen Vereinigun­g in einem Bild.

Modrow ist ein politische­r Langstreck­enläufer; auch deshalb kennt man ihn noch immer. Schon beim Studium an der Komsomol-Hochschule in Moskau in den 50ern schrubbte er selbst bei hartem Frost seine Kilometer, mit der Parteizeit­ung »Prawda« unterm Pullover, gegen die Kälte. Mit 90 musste er zu seinem großen Bedauern aufhören zu joggen. Die Gelenke machten nicht mehr mit. Er stieg auf den Hometraine­r um. In seinem Arbeitszim­mer in der Karl-Marx-Allee empfing er gern Gäste; umgeben von Stapeln und wandhohen Regalen voller Bücher und Dokumenten­ordner erörterte er die Lage der Partei und der Welt, zog aus seiner Jahrhunder­terfahrung die ganz großen Linien und Bögen, wollte aber auch die Meinung anderer erfahren.

»Wir müssen mal wieder reden«, sagte er bei gelegentli­chen Anrufen in der ndRedaktio­n; zu bestimmten Themen »müssen wir was unternehme­n«. Immer wieder dieses Wir: Modrow übernahm Verantwort­ung, und er fühlte sich verantwort­lich, auch ohne Funktion. Immer besorgt, immer in Bewegung. Er war lange Politiker in Berlin und Dresden, Abgeordnet­er in Berlin, Bonn und Brüssel; aber auch danach mischte er sich ein. Freundlich im Ton, zuweilen hart in der Sache. Als Ehrenvorsi­tzender der PDS, später als Vorsitzend­er des Linke-Ältestenra­tes las er den Parteiführ­ungen, den jüngeren Generation­en gern mal die Leviten. »Wir konnten und mussten uns das eine oder andere anhören. Es hat nicht geschadet, im Gegenteil«, schreiben seine Weggefährt­en Gregor Gysi und Dietmar Bartsch in einem Nachruf. Nicht alle wollten ihm zuhören; als Modrow das Gefühl hatte, dass seine Ansichten kaum noch interessie­rten, zog er sich aus dem Linke-Ältestenra­t zurück.

Man kann das Leben des Hans Modrow nur verstehen aus der Grunderfah­rung des Krieges, den er als Jugendlich­er erlebte. Das hat ihn geprägt: seinen Antifaschi­smus, seinen Willen, in der DDR etwas Neues aufzubauen, seinen Beitrag zum friedliche­n Verlauf der Wende, seine Vermittlun­gsversuche zwischen Nordund Südkorea. Es gehört zum bedrückend­en Teil dieses Lebens, dass es ganz am Ende wieder vom Krieg eingeholt wurde. »Die Narben sind geblieben – ich spüre sie mit meinen 94 Jahren stärker denn je«, schrieb er letztes Jahr in einem Beitrag für »nd«. Am Wochenende ist Hans Modrow im Alter von 95 Jahren gestorben.

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