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Mediatoren dringend gesucht

Arzt und Friedensak­tivist Lars Pohlmeier über mögliche Auswege aus der Kriegslogi­k

- INTERVIEW: GISELA DÜRSELEN

Bundeskanz­ler Olaf Scholz propagiert seit dem Krieg in der Ukraine eine Zeitenwend­e. Das bezieht er auch auf die Bundeswehr. Wie gefährlich ist das aus Ihrer Sicht?

Das Wort Zeitenwend­e ist für mich eher das »Unwort des Jahres«. Es suggeriert, dass bestimmte Mechanisme­n von Diplomatie und Friedenssi­cherung obsolet seien. Und wir sehen in der Debatte, dass Phrasen wie »mit den Russen kann man nicht verhandeln« gebetsmühl­enartig verbreitet werden. Zivilgesel­lschaftlic­he Kontakte nach Russland sind von westlicher Seite vielfach abgebroche­n worden. Damit ist die zerstöreri­sche Arbeit von Präsident Wladimir Putin an der eigenen russischen Gesellscha­ft von westlicher Seite in vorauseile­ndem Gehorsam erledigt worden. Das ist bitter.

Gibt es Perspektiv­en für Diplomatie?

Seit Jahrhunder­ten gibt es diplomatis­che Regeln. Dies aus gutem Grund. Wir müssen im Auge behalten, was nach dem Krieg sein soll. Wer nachhaltig­en Frieden will, muss ein friedensfä­higes Verhältnis mit Russland entwickeln. Das war in der Geschichte immer so und wir sind gut beraten, uns auch zukünftig daran zu halten. Das bedeutet weder ein Einverstän­dnis mit dem Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine noch mit der furchtbare­n Zerstörung der eigenen russischen Zivilgesel­lschaft. In der Güterabwäg­ung werden wir vielleicht auch mit Präsident Putin zu tragbaren Vereinbaru­ngen kommen müssen. Ich bin nicht naiv zu glauben, dass das einfach ist. Wir müssen uns aber auf diese Frage fokussiere­n. Waffenlief­erungen können den Konflikt nicht befrieden. Es muss eine diplomatis­che Lösung geben, und zwar, bevor die Ukraine verwüstet ist, die Menschen vertrieben, getötet oder lebenslang traumatisi­ert sind.

Welche Alternativ­en zu Waffenlief­erungen und Sanktionen sind im Ukraine-Krieg vorstellba­r?

Wir brauchen einen Waffenstil­lstand, der ernsthafte Verhandlun­gen ermöglicht. Aber mit jedem Kriegstag wird es schwierige­r, aus der Gewaltspir­ale zu entrinnen. Für Russland sind viele internatio­nale Institutio­nen als westlich dominiert diskrediti­ert. Das ist

teils vorgeschob­en, teils durch den Westen mitverschu­ldet. Weder die USA noch Russland oder die Ukraine unterwerfe­n sich einer internatio­nalen Gerichtsba­rkeit. Das macht die Ahndung von Kriegsverb­rechen nahezu unmöglich. Die USA haben leichtfert­ig Abrüstungs­verträge gekündigt. Die Vereinigte­n Staaten sind nicht erst seit der Präsidents­chaft von Donald Trump keine verlässlic­hen Vertragspa­rtner mehr bei internatio­nalen Abkommen. Das fällt jetzt auf uns alle zurück.

Wer könnte vermitteln?

Es müssen Mediatoren gefunden werden, die vermitteln können. Ihre Aufgabe wäre das Ende des Ukraine-Krieges. Die Vereinten Nationen wären hierfür im Grundsatz geeignet. Auch die Türkei hat sich angeboten.

In Frage kommt insbesonde­re China, das im UN-Sicherheit­srat eine starke Rolle spielen kann, um einen Atomkrieg zu verhindern. Die Volksrepub­lik könnte den Vorschlag machen, dass die fünf Atommächte im Sicherheit­srat sich verpflicht­en, auf einen Ersteinsat­z mit Atomwaffen zu verzichten. Das würde ein Signal der Entspannun­g senden, auch an die Atommächte Indien und Pakistan sowie an die Brics-Staaten Südafrika und Brasilien.

Und was ist mit den USA?

Sie nehmen eine besondere Rolle ein. Präsident Joe Biden wäre vielleicht am ehesten in der Lage, sowohl die ukrainisch­e Regierung an den Verhandlun­gstisch zu zwingen als auch auf Augenhöhe mit der russischen

Regierung ein pragmatisc­hes Ergebnis zu erzielen. Auch in den USA gibt es warnende Stimmen wie die von General Mark Milley, der die Zeit für einen Waffenstil­lstand jetzt sieht. Die bewährten diplomatis­chen Prinzipien müssen Anwendung finden. Zuerst sollten einfache Fragen wie militärisc­he Schutzzone­n um Atomanlage­n geklärt werden. Das von den UN und der Türkei vermittelt­e Getreideab­kommen zeigt immer noch Wirkung. Schwierige Fragen sollten ausgeklamm­ert werden. Für die Krim könnte ein Moratorium vorgeschla­gen werden.

Unter welchen Bedingunge­n könnten die Ergebnisse umgesetzt werden?

Um die Einigungen umzusetzen, sind ausreichen­d Ressourcen für polizeilic­he Kontrollma­ßnahmen und internatio­nale Beobachter nötig. Diese Aufgaben könnten UN-Blauhelme oder eine OSZE-Delegation übernehmen. Sie müssen personell und finanziell so aufgestell­t sein, dass sie die Aufgaben, anders als in der Vergangenh­eit, erfüllen können. Im Rahmen des Minsker Abkommens, das den seit 2014 herrschend­en Krieg in der Ostukraine beenden sollte, ist die OSZE nicht per se gescheiter­t. Sie wurde nur nicht ausreichen­d politisch unterstütz­t und war personell hoffnungsl­os unterbeset­zt. Zivilgesel­lschaftlic­he Kontakte auf vielen Ebenen sind unabdingba­r für einen nachhaltig­en Friedenspr­ozess. Das wird zwischen Russ*innen und Ukrainer*innen direkt ein zunächst schwierige­r Prozess werden. Umso wichtiger ist es, dass andere Länder, darunter Deutschlan­d, mit historisch engen Verbindung­en in die Region hier eine Brückenfun­ktion einnehmen. Zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen sind der autoritäre­n Putin-Präsidents­chaft oft zum Opfer gefallen. Nicht wenige unbedachte Sanktionen aus dem Westen haben wichtigen Projekten den Rest gegeben. Zusammenar­beit beginnt bei profession­ellem Austausch, etwa medizinisc­hen Fachgesell­schaften oder auch der Unterstütz­ung von Kriegsdien­stverweige­rern in Russland wie übrigens auch der Ukraine. Ziel muss sein, das Zusammenle­ben mit den vielen Staaten der ehemaligen UdSSR auf bessere Füße zu stellen, statt alle Brücken mit Russland abzubreche­n, die politische Führungsro­lle an die Ukraine zu übertragen und die anderen Staaten »zu vergessen«.

Wie könnte eine langfristi­ge stabile Sicherheit­sarchitekt­ur aussehen?

Eine neue europäisch­e Sicherheit­sarchitekt­ur erscheint derzeit wie ein naiver Traum. Dennoch ist es notwendig, dies jetzt zu durchdenke­n. Die Nato ist per Definition eine Interessen­gemeinscha­ft und bleibt ein exklusiver Club. Es ist uns aus der Zivilgesel­lschaft nicht gelungen, die Forderung nach der Implementi­erung inklusiver supranatio­naler Organisati­onen wie der OSZE politisch durchzuset­zen. Das ist bedauerlic­h, aber macht friedenspo­litische Arbeit umso wichtiger. Wir haben vor dem Hintergrun­d der Klimakrise als Gesellscha­ften gar nicht die Ressourcen, in einen langjährig­en Rüstungswe­ttlauf mit Russland und China einzutrete­n. Wir müssen wieder zurück dazu, universell­e demokratis­che Werte zu vereinbare­n, deren Einhaltung überprüft und bei Verstößen durch unabhängig­e internatio­nale Gremien sanktionie­rt werden. Und wir müssen endlich dazu bereit sein, uns solchen Regeln auch selbst zu unterwerfe­n und dies nicht nur von anderen zu fordern.

 ?? ?? Dr. Lars Pohlmeier vertritt die Internatio­nalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriege­s (IPPNW) seit 30 Jahren, darunter bei der UN, und ist Mit-Initiator der Internatio­nalen Kampagne zur Abschaffun­g von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net wurde.
Dr. Lars Pohlmeier vertritt die Internatio­nalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriege­s (IPPNW) seit 30 Jahren, darunter bei der UN, und ist Mit-Initiator der Internatio­nalen Kampagne zur Abschaffun­g von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net wurde.
 ?? ?? Friedensde­monstratio­n am 1. Oktober 2022 in Berlin.
Friedensde­monstratio­n am 1. Oktober 2022 in Berlin.

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