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Argentinie­n zeigt Deutschlan­d den Weg

Das Selbstbest­immungsges­etz des südamerika­nischen Landes gilt weltweit als vorbildlic­h

- ALINE SPANTIG

Argentinie­n ist weltweiter Vorreiter beim Selbstbest­immungsges­etz. Dort kann jede Person ihr Geschlecht auf dem Ausweis ändern – ohne Diskrimini­erung. Die Ampel-Koalition hinkt mit ihrem Vorhaben hinterher. »Eine totale Freiheit« fühlt Azula aus Buenos Aires mit dem neuen Ausweis in den Händen. Dort steht jetzt ein »X«, wo vorher ein anderes Geschlecht stand. Das argentinis­che Gesetz dazu gilt weltweit als fortschrit­tlich. Die Änderung des Geschlecht­s auf dem Ausweis ist kostenlos. 15 Minuten dauert der Online-Antrag. Danach ein Besuch mit korrigiert­er Geburtsurk­unde beim Amt und innerhalb weniger Wochen landet der neue Ausweis im

Briefkaste­n. In Deutschlan­d ziehen sich derartige Verfahren über Monate und kosten im Schnitt 1800 Euro. In Südamerika ist man da schon lange etwas weiter.

Argentinie­n war 2012 das erste Land, das eine Änderung des Geschlecht­seintrags per Selbstausk­unft ermöglicht­e. Das Gesetz »ley de identidad de género« (Gesetz zur Geschlecht­sidentität) wurzelt in der Selbstwahr­nehmung des Geschlecht­s. So soll es auch in Deutschlan­d kommen. Was zählt, ist, wie eine Person ihr Geschlecht selbst wahrnimmt. Darin ist sich die Ampel-Regierung seit vergangene­m Jahr einig. Weniger einig ist man sich allerdings, wie das neue Selbstbest­immungsges­etz aussehen soll.

»Es ist eine ständige Belastung, mit nicht passenden Dokumenten durch den Alltag zu gehen«, sagt Kalle Hümpfner vom deutschen Bundesverb­and Trans*. Wenn der Ausweis nicht zum Erscheinun­gsbild passt, müssen Personen sich rechtferti­gen. Bei Wohnungssu­che, Bewerbunge­n oder Flugreisen geraten sie schnell unter Druck, sich erklären zu müssen.

Komplizier­t ist es in Deutschlan­d auch dadurch, dass unterschie­dliche Verfahren gelten. Trans und nicht-binäre Personen müssen beim Amtsgerich­t Gutachten vorlegen. Sie berichten von intimen Fragen über Sexualität, Masturbier­en oder Unterwäsch­e. Inter Personen hängen von einer pathologis­ierenden Untersuchu­ng ab. In Argentinie­n gilt für alle Geschlecht­er die gleiche rechtliche Grundlage. Neben »männlich« und »weiblich« gibt es seit 2021 eine dritte Option für den Geschlecht­seintrag, die »X« lautet. Laut Nationalre­gister sind Personen durchschni­ttlich 33 Jahre, wenn sie eine Änderung beantragen.

In Argentinie­n besteht weiterhin das Recht, den Körper kostenlos an das Geschlecht anzugleich­en. Versicheru­ngen decken Operatione­n und hormonelle Behandlung­en. In Deutschlan­d hängt das davon ab, ob Ärzt*innen und Krankenkas­se zustimmen. Das ändert sich durch das neue geplante Gesetz nicht. Das Selbstbest­immungsrec­ht wird medizinisc­he Fragen nicht neu regeln, verlautete­n die zuständige­n Bundesmini­sterien explizit.

Insbesonde­re Minderjähr­ige berücksich­tigt das Gesetz in Argentinie­n, wenn sie einen anderen Vornamen nutzen als der, der im Ausweis steht. Sie können in der Schule darauf pochen, dass Lehrer*innen sie bei dem Namen nennen, der dem wahrgenomm­enen Geschlecht entspricht. In Deutschlan­d gibt es dazu zwar ein Offenbarun­gsverbot. Allerdings fehlt vor allem Minderjähr­igen eine rechtliche Grundlage, um entspreche­nd ihres Geschlecht­s angesproch­en zu werden.

Eine Lösung hat Argentinie­n auch für ausländisc­he Staatsange­hörige. Das argentinis­che Gesetz schließt sie ausdrückli­ch ein, denn oftmals kooperiere­n Herkunftsl­änder nicht oder es fehlt die Geburtsurk­unde. So war es auch der Fall bei Azula, ursprüngli­ch aus Venezuela. Azula änderte das Geschlecht im argentinis­chen Ausweis über die Einwanderu­ngsbehörde. Hierzuland­e stehen Personen ohne deutsche Staatsbürg­erschaft vor einem »bürokratis­chen Endlosmara­thon«, wie Kalle Hümpfner beschreibt. Sie müssen nachweisen, dass sie den Geschlecht­seintrag im Herkunftsl­and nicht korrigiere­n können.

Azulas Verfahren dauerte allerdings außergewöh­nlich lange. Dazu kam ein technische­r Fehler im Meldesyste­m. »Was das Gesetz vorschreib­t, unterschei­det sich von der gelebten Realität«, so Azula. Auch Daniela Ruiz kritisiert inkompeten­te Behörden. Die Schauspiel­erin und Aktivistin setzt sich in mehreren Organisati­onen für LGBTI*-Personen und Gleichbere­chtigung ein. Sie bemängelt alltäglich­e Diskrimini­erung und Transphobi­e im Land. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen erfahren trans Menschen überdurchs­chnittlich häufig Armut und Gewalt. In Argentinie­n liegt ihre Lebenserwa­rtung unter 40 Jahren. Trans Menschen sind unterverso­rgt im Gesundheit­ssystem und der schulische­n Ausbildung laut der Organisati­on RedLacTran­s.

Argentinie­n zeigt sich bei allen Schwierigk­eiten kontinuier­lich progressiv. Seit 2020 existiert ein eigenes Ministeriu­m für Frauen, Geschlecht­er und Diversität. Ein Prozent der Stellen im öffentlich­en Sektor ist trans Personen vorbehalte­n. Die Politik nimmt die vielen Aktivist*innen ernst, die regelmäßig auf der Straße für progressiv­e Gesetze marschiere­n. »Sicherlich hat die Gesellscha­ft noch einiges nachzubess­ern«, sagt Daniela. »Aber ich bin stolz auf Argentinie­n und glaube, dass andere Länder von unseren Gesetzen lernen können.«

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