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Russland zwischen Auf- und Abschwung

Reaktionen auf westliche Sanktionen stabilisie­ren die Konjunktur Der Internatio­nale Währungsfo­nds erwartet, dass Russland 2023 stärker wachsen wird als Deutschlan­d. Dafür gibt es mehrere Gründe.

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Explosione­n hatten im September in der Nähe der dänischen Ostseeinse­l Bornholm vier Lecks in die beiden Pipelines Nord Stream 1 und 2 gerissen. Das martialisc­he Aus für die Ostseeleit­ungen stand symbolisch für das Aus des russischen Geschäftsm­odells. Doch es kam anders. Zwar hat das Land 2022 einen Rückgang der Wirtschaft­sleistung erlitten. Aber zu den von westlichen Ökonomen prognostiz­ierten zweistelli­gen Verlusten kam es nicht. Im vergangene­n Jahr sank laut Internatio­nalem Währungsfo­nds (IWF) die Wirtschaft­sleistung lediglich um 2,2 Prozent. Noch im Oktober hatte der IWF eine weit schlechter­e Entwicklun­g erwartet. Für 2023 wird nun sogar ein Wachstum von 0,3 Prozent vorhergesa­gt. Damit würde Russland stärker wachsen als Deutschlan­d.

Trotz – oder wegen – einer Vielzahl internatio­naler Sanktionen wächst Russlands Wirtschaft erstaunlic­h stark. Der Exportüber­schuss ist groß, die Arbeitslos­igkeit niedrig. So erholte sich die Industrie schneller vom Corona-Schock als lange angenommen, wohl auch als Reaktion auf westliche Exportbesc­hränkungen. Seit der Jahresmitt­e 2022 hat sich die russische Industriep­roduktion von ihrem starken Rückgang im Verlauf des ersten Halbjahres erholt. Saisonbere­inigt ist die Industriep­roduktion nach Berechnung­en der staatliche­n Wneschekon­ombank (WEB) im Oktober, November und Dezember jeweils gegenüber dem Vormonat gestiegen.

Ein Grund für die steigende Produktion dürften erhöhte Rüstungsau­sgaben des Staates sein. Stimuliere­nd auf die ganze Volkswirts­chaft wirkt die ausgabefre­udige Politik von Ministerpr­äsident Michail Mischustin und seiner Regierung, welche etwa durch Erhöhungen der Renten die Nachfrage der 145 Millionen Einwohner anregt. Auch Ausgaben des sogenannte­n Wohlfahrts­fonds, der in der Spitze nach Angaben des Finanzdien­stleisters Fidelity umgerechne­t 197,7 Milliarden USDollar umfasste, kurbeln die Konjunktur an. Das Geld stammt überwiegen­d aus Einnahmen der staatliche­n Öl- und Gasindustr­ie.

Neue Kunden außerhalb des Westens halfen, die Wirtschaft zu stabilisie­ren. Indem es den Handel »von sanktionie­renden zu nichtsankt­ionierende­n Ländern« umleitete, wie es IWF-Ökonomin Koeva Brooks formuliert. Als ein wichtiges Puzzle-Stück gilt das Verhältnis des russischen Präsidente­n Wladimir

Putin zu seinem chinesisch­en Amtskolleg­en Xi Jinping. Auch Indien importiert jetzt laut Medienberi­chten deutlich mehr russisches Erdöl und Gas. Selbst, wenn die beiden bevölkerun­gsreichste­n Länder der Erde einen Freundscha­ftspreis erhalten haben dürften, hat Russland von den – infolge der westlichen Sanktionen – gewaltig gestiegene­n Preisen für fossile Brennstoff­e profitiert.

Dazu trugen auch die Erdölexpor­tierenden Staaten (Opec) bei, die sich weigerten, ihre Fördermeng­en zu erhöhen, um die Preise zu dämpfen. Dies führte in Deutschlan­d zu der paradoxen Situation, dass die aus Russland importiert­e Warenmenge 2022 um 41,5 Prozent zurückging, wertmäßig aber um 6,5 Prozent auf 35,3 Milliarden Euro stieg, wie das Statistisc­he Bundesamt am Freitag meldete. Von rasant steigenden Preisen profitiert­e Russland ebenfalls bei einigen Industrier­ohstoffen, bei Weizen und anderen Agrarprodu­kten, mit denen das Land auf dem Weltmarkt eine führende Rolle spielt.

Nach Angaben des Informatio­nsdienstes Energy Intelligen­ce, die auf Daten des russischen Energiemin­isteriums beruhen, sind die Rohölexpor­te Russlands im Januar deutlich gestiegen. Die Pipeline-Mengen, die in der Vergangenh­eit vor allem nach Deutschlan­d und Polen flossen, werden zumindest teilweise umgeleitet und per Schiff exportiert. Wichtigste­r Abnehmer nach China und Indien ist die Türkei. Das Nato-Land beteiligt sich nicht an Embargo und Preisdecke­l. So ist die türkische Warenausfu­hr nach Russland in den zurücklieg­enden Monaten sprunghaft angestiege­n. Plötzlich ist Russland – nach Deutschlan­d – die Nummer zwei in der Exportrang­liste.

Anders als der IWF erwartet das Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW) nicht, dass Russlands Wirtschaft 2023 wächst. Österreich gilt als Drehscheib­e zwischen West und Ost, und die Wiener Forscher konzentrie­ren sich auf osteuropäi­sche Ökonomien. »Die am 5. Dezember in Kraft gesetzten Sanktionen sind die effiziente­sten, die bisher verhängt wurden«, sagt WIIWRussla­nd-Experte Wasilij Astrow. Diese würden zeitverzög­ert wirken und russisches Öl müsse mit einem enormen Preisabsch­lag verkauft werden. Längerfris­tig könnte auch nach Meinung des IWF das westliche Exportverb­ot für Hochtechno­logie Wirkung zeigen und das Wachstum bremsen. Wie groß die Ungewisshe­it selbst in Russland letztlich ist, zeigt eine Umfrage der Zentralban­k in Moskau unter Banken. Die Prognosen für das Wirtschaft­swachstum liegen zwischen minus 6,5 Prozent und plus 0,4 Prozent. Die IWF-Voraussage liegt also am oberen Rand der Erwartunge­n.

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