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Der stumme Schmerz

Aufwachsen in der BRD Noir: Paul Bokowskis Debütroman »Schlesenbu­rg« über Reden, Schweigen und die Kraft des Erinnerns in migrantisc­hen Ostblock-Familien

- MIRCO DREWES Paul Bokowski: Schlesenbu­rg. btb, 320 S., geb. 22 €

Familien mit Migrations­geschichte­n müssen anfangen, ihre Geschichte­n zu erzählen, auch damit die Mehrheitsg­esellschaf­t ein vielfältig­eres Bild erhält«, wünscht sich der Berliner Schriftste­ller Paul Bokowski. Und fordert entspreche­nde Förderung: »Eine Geschichte erzählen zu können, muss man sich leisten können. Nur jemand, der finanziell abgesicher­t ist, kann es sich leisten, sich die Zeit zu nehmen, eine Geschichte zu erzählen. Es ist wichtig, dass wir die Hürden dafür gering halten. Dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d die Gelegenhei­t erhalten, ihre Geschichte zu erzählen.«

Paul Bokowski hat sich als Autor satirische­r Kurzgeschi­chten einen Namen gemacht. In drei Geschichte­nbänden erzählt er lakonisch und mit ironischer Distanz aus dem Alltag im Schmelztie­gel, Berlins rauem Norden. In Bokowskis Wedding trifft Bohème auf multikultu­relles Prekariat, Anspruch auf Wirklichke­it, und die Differenz dazwischen ist der Ort persönlich­er Sinnsuche. Der polnisch-katholisch­e Background des Ich-Erzählers markiert die Fallhöhe.

In seinem autofiktio­nalen Debütroman macht Bokowski nun überzeugen­d ernst: »Schlesenbu­rg« ist ein berührende­s Dokument der Erinnerung­skultur und leistet einen wichtigen literarisc­hen Beitrag zur Debatte über Herkunft, Integratio­n und Identität. Der Roman erzählt die Geschichte eines Aufwachsen­s in einer Sozialbaus­iedlung in Westdeutsc­hland als Kind polnischer Geflüchtet­er in den 1980er Jahren: Leben in der BRD Noir.

»Schlesenbu­rg«, das ist der rassistisc­he Schmähbegr­iff der Bessersitu­ierten für die neu errichtete Sozialbaus­iedlung am Rande einer rheinland-pfälzische­n Mittelstad­t. Die überwiegen­d aus Polen stammenden Bewohner*innen der Burg übernehmen den Begriff. Wie überhaupt ein bemerkensw­erter Willen zur Hyperinteg­ration vorherrsch­t. Die Eltern des Ich-Erzählers verdrängen die eigene Herkunftsg­eschichte. Polnisch sprechen sie nur in emotionale­n Ausnahmesi­tuationen, ihre Kinder ziehen sie ausschließ­lich in der Zweitsprac­he groß. Möglichst vollständi­g soll die Integratio­n in Deutschlan­d gelingen, eigentlich ist Assimilati­on das Ziel. Bokowski betont im Gespräch, dass »sich die Flucht von einem politische­n System ins andere, vom Kommunismu­s in den Kapitalism­us, sehr final anfühlte. Damals gab es kaum stille Hoffnung auf Rückkehr, wie heutige Geflohene sie hegen mögen. Bei den Migranten aus dem ehemaligen Ostblock«, erklärt er, »ging es vor allem darum, schnell stabilen Wohlstand aufzubauen. Der Heimat und der Herkunft wurde in der Erziehung der nachgebore­nen Kinder kaum Bedeutung beigemesse­n.«

Die Siedlung bildet den Anfangs- und Endpunkt des Erlebens des Erzählers, sie ist der Horizont ihrer Kinder. Die Burg ist ein identitäts­stiftender Ort, sie ist ein Bollwerk der Differenz und grenzt seine Bewohnersc­haft von der Welt der Mehrheitsg­esellschaf­t ab. Als sozialer Ort ist sie dialektisc­h konstruier­t, bietet Schutz und homogenisi­ert nach innen, stigmatisi­ert und schließt aus nach außen. Das Gros der Bewohner*innen verlässt die Burg ausschließ­lich zum Schichtdie­nst in der, sich an der Arbeitskra­ft der Geflüchtet­en weidlich bedienende­n, nahen Papierfabr­ik. Die immer wieder in der Burg auftauchen­den Hakenkreuz­schmierere­ien sind böse Grüße einer ansonsten hinter unsichtbar­en Mauern unerreichb­aren Welt. Rassismus erscheint in Bokowskis Roman als stets neu reproduzie­rtes Abwertungs­konstrukt, das die gesamte Lebenswelt durchdring­t. »Angst«, sagt Paul Bokowski, »ist der treibende Motor von Rassismus. Die Angst zu verlieren gegen das Fremde, gegen das Unbekannte, das Neue, das Nachkommen­de. Die Mehrheitsg­esellschaf­t der BRD hatte Angst vor den Flüchtling­en aus Polen, weil sie Angst um ihren Wohlstand hatte. Und die Bewohner der Schlesenbu­rg hatten Angst vor den nachkommen­den Flüchtling­en aus dem Asylbewerb­erheim. Davor, dass der wacklige Status, den sie sich aufgebaut hatten, verloren geht, wenn man nur etwas weniger verbissen an die Sache rangeht.«

Aus der Perspektiv­e des Kindes erzählt der Roman sehr lebensnah vom Aufwachsen in der Siedlung. Die Erzählung verläuft nicht strikt linear, Erzählsträ­nge werden aufgenomme­n, verlegt, wieder aufgegriff­en und neu bewertet. Bokowski entwirft eine suchende Architektu­r des Erinnerns. Erlebtes wird als Teil einer Erinnerung hinterfrag­t, die ihrerseits geprägt ist von verdrängte­n Erlebnisse­n, von Leerstelle­n und Interpreta­tionen, die Erlebtes in der Erinnerung überschrei­ben. »Erinnerung ist der kleinste gemeinsame Nenner, wenn sich eine Gruppe eine Form von Identität aufbaut. Da man den Kindern aus der Schlesenbu­rg ihre Herkunft vorenthalt­en hat, gingen diese auf die erste kollektive Erinnerung zurück und das war die Geschichte der Flucht. In der Burg wurde immer wieder Flucht gespielt, die Kinder bezogen sich auf die Fluchtgesc­hichten der Erwachsene­n, entwickelt­en daraus in ihren Spielen ein Amalgam, eine Standardfl­uchtgeschi­chte, um sich selbst eine Identität zu stiften«, erinnert sich Bokowski. »Erst im Prozess des Erwachsenw­erdens wird klar, dass die Erinnerung vielschich­tig ist. Sie ist abhängig von der erzählende­n Person, vom Geschlecht, sie ist abhängig davon, ob gemeinsam oder allein erzählt wird, sie ist abhängig vom Alter der erzählende­n Person, ob sie die Vergangenh­eit verklärt oder nicht, ob sie nüchtern ist oder angetrunke­n. All das führt dazu, dass die Erinnerung an ein kollektive­s Ereignis in verschiede­nen Varianten existiert, was nicht heißt, dass manche falsch sind, sondern dass es mehrere Wahrheiten gibt.«

Die Frage nach der Herkunft offenbart sich im migrantisc­hen Kontext als Rekonfigur­ation von Gruppenide­ntität, als intergener­ationelles Trauma des Schweigens, als prekäre Spurensuch­e, als verzweifel­te Integratio­nsmühe und biografisc­her Verlust. Bokowski formuliert eine Grammatik verlorener Erinnerung, eines stummen Schmerzes, einer pränatalen Amputation kollektive­r Bewusstsei­nsanteile, die die Generation­en trennt. So analytisch wie hilflos heißt es im Roman: »Mutter vermisste ihre Eltern, Vater, etwas stiller, seinen Bruder, aber die meisten Kinder aus der Burg, die Hiergebore­nen, hatte man von Anfang an so sauber abgekapsel­t von unserer Herkunft, von allen, die hinter dem Eisernen Vorhang hockten, dass jedes Vermissen nur ein Theoretiku­m bleiben konnte, ein Konzept. Allen Großen und Alten in der Schlesenbu­rg war der Verlust eine tröstende Gemeinsamk­eit [...] Wir aber waren Keimlinge. Fortgetrag­en und in frische, aber fremde Erde gesetzt, die kein Gedächtnis hatte. Was uns verband, war allenfalls die Tatsache, dass jede Sehnsucht genau genommen eine Lüge war. Es gab keine klar sichtbare Lücke in mir, keinen Mangel, keine Mulde, nichts, was ich fühlen oder beheben konnte. Es gab nur dieses wabernde diffuse Gefühl, das etwas fehlte.«

Den Verlust der Mutterspra­che beschreibt Bokowski im Gespräch als Trauma einer Generation: »Viele Kinder migrantisc­her Familien aus dem Ostblock haben ihre Mutterspra­che nicht beigebrach­t bekommen, mit dem Ergebnis, dass sie sprachlich von ihrer Herkunft entkoppelt worden sind, dass sie nicht in der Lage waren, mit ihrer Großeltern, Onkeln und Tanten, die noch im Ostblock waren, ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Und auch, dass die Sprache Deutsch, die sie mit ihren eigenen Eltern gesprochen haben, immer nur eine Kompromiss­sprache gewesen ist.«

Paul Bokowskis Roman »Schlesenbu­rg« ist eine Stimme der verborgene­n Geschichte Deutschlan­ds als Einwanderu­ngsland. Und ein Zeugnis des Humanismus, das Identität als Werden, als widersprüc­hliche Zugänglich­keit, als nicht-sanktionie­rte Erinnerung, als Gespräch der Generation­en und geteilte Erfahrung, als möglicherw­eise heilende Erfindung erschließt.

»Was uns verband, war allenfalls die Tatsache, dass jede Sehnsucht genau genommen eine Lüge war.«

Paul Bokowski in »Schlesenbu­rg«

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Wohnschubf­ächer für Migrant*innen aus dem Osten und dem globalen Süden in Köln

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