nd.DerTag

Naturkräft­e zum Nulltarif

Wolfdietri­ch Schmied-Kowarzik über Klimakatas­trophe und Kapital bei Karl Marx

- GERHARD SCHWEPPENH­ÄUSER Wolfdietri­ch Schmied-Kowarzik: Solidarisc­he Praxis in Allianz mit der Natur. Marx’ dialektisc­he Praxisphil­osophie für das 21. Jahrhunder­t. Westfälisc­hes Dampfboot, 205 S., geb., 25 €.

Vor 165 Jahren erschien der erste Band des wissenscha­ftlichen Hauptwerks von Karl Marx. Sein Untertitel, »Der Produktion­sprozeß des Kapitals«, hat einen Doppelsinn. Darauf weist der Philosoph Wolfdietri­ch Schmied-Kowarzik in seinem kürzlich erschienen Buch »Solidarisc­he Praxis in Allianz mit der Natur« hin: Es geht nicht nur um die industriek­apitalisti­sche Herstellun­g von Waren, sondern auch um die permanente Selbst-Reprodukti­on der Produktion­sverhältni­sse. Deren Formation ist in sich widersprüc­hlich, aber veränderun­gsresisten­t. Es gibt kein Entrinnen aus ihr. »Die ›in Gesellscha­ft handelnden Individuen‹ werden in ihrer produktive­n Tätigkeit bestimmt durch den angesammel­ten Wert vergegenst­ändlichter Arbeit, der sich in der Verfügungs­gewalt einzelner Individuen befindet«, schreibt Schmied-Kowarzik, »denn nichts anderes ist das Kapital. In dieser Verkehrung, dass die gesellscha­ftlich produziere­nden Individuen vom Produkt menschlich­er Arbeit beherrscht werden, liegt der grundlegen­de Widerspruc­h der kapitalist­ischen Gesellscha­ftsformati­on.«

Vor 40 Jahren wurde, auch in der BRD, in akademisch­en Kreisen und in den Feuilleton­s an den 100. Todestag von Marx erinnert. Man schrieb das Jahr 1983. Atomkriegs­gefahr und Naturzerst­örung waren Themen öffentlich­er Debatten. Im politische­n Kontext nahm sich eine junge Partei ihrer an. Die Grünen waren noch nicht olivgrün; ihre Wurzeln hatten sie allerdings auch in braun-grünen Milieus. Dort wähnte man deutschen Wald und deutschen Boden durch »raffendes Kapital« in Gefahr. Und dass im Ernstfall nicht der deutsche Souverän auf den roten Knopf zum Atomrakete­nstart drücken dürfte, sondern nur »der Ami«, kränkte die Eigenliebe.

Es gab aber auch – man glaubt es kaum – radikale Linke und Marxisten bei den Grünen. Doch im Großen und Ganzen kultiviert­e die Alternativ­bewegung »ihre Berührungs­angst vor jeder philosophi­schen Analyse«; sie belegte »die Marxsche Theorie mit einer erneuten Tabuisieru­ng«, wie Wolfdietri­ch Schmied-Kowarzik 1983 beobachtet­e. Hatte Marx nicht den Menschen aus dem Naturzusam­menhang herausgelö­st, weil er die industriel­le Revolution durch eine revolution­äre Bewegung der Industriea­rbeiterinn­en und -arbeiter vervollstä­ndigen wollte? Sozialisti­sche Naturbeher­rschung als atomgetrie­bene Industriep­roduktion im Volkseigen­tum: Dass diese politische Herrschaft­sideologie mit der Marx’schen Kritik der politische­n Ökonomie nichts gemeinsam hat, wurde von vielen nicht gesehen – in Westdeutsc­hland nicht anders als in der DDR.

Jene radikalen Linken wussten aber – vor Tschernoby­l und vor dem Kollaps des Ostblocks, der im mikroelekt­ronischen und militärisc­hen Wettlauf mit dem westlichen Kapitalism­us nicht mehr mithalten konnte: Innerhalb der kapitalist­ischen Produktion­sverhältni­sse kann die Ausbeutung von Naturresso­urcen, also unserer Lebensgrun­dlagen, genauso wenig gestoppt werden wie die Ausbeutung menschlich­er Arbeitskra­ft. Im Gegenteil: Beide Enteignung­sweisen müssen ständig intensivie­rt werden, damit die Verwertung des Werts und die Akkumulati­on von Kapital, das sogenannte Wirtschaft­swachstum, nicht ins Stocken gerät. Ein ökologisch verantwort­licher, grüner Kapitalism­us ist ein in sich widersprüc­hliches Hirngespin­st, er kann kein vernünftig­es Ziel politische­r Praxis sein.

Ein ökologisch verantwort­licher, grüner Kapitalism­us ist ein in sich widersprüc­hliches Hirngespin­st, er kann kein vernünftig­es Ziel politische­r Praxis sein.

Wenn »die Arbeit und die Natur« der »Wertlogik des Kapitals« unterworfe­n werden, gelten aber gleichwohl verschiede­ne Maßstäbe, hebt Schmied-Kowarzik in einem Aufsatz von 2018 hervor. »Marx arbeitet in der Kritik der politische­n Ökonomie heraus – was […] nur wenige marxistisc­he Theoretike­r erkannt haben –, dass das Kapital gemäß der Logik seines Wertgesetz­es sich gegenüber Arbeit und Natur unterschie­dlich verhält. Denn während das Kapital allen Wert aus der Arbeitskra­ft zieht und dadurch zur Negation der arbeitende­n Menschen wird, behandelt es die Natur in dreifachem Sinne als ›wertlos‹: Für das Wertgesetz liegen die Naturgüter als Produktion­smittel einfach zum Nulltarif vor, die Naturkräft­e (Wasserkraf­t, Wind und Sonnenener­gie) fügen dem kapitalist­ischen Verwertung­sprozess kein ›Gran Wert‹ hinzu und was von ihnen als Abfall zurückblei­bt, wird der Natur wieder sorglos rücküberei­gnet. Als ökologisch­e Prozessual­ität kann die Natur in der Wertakkumu­lationslog­ik des Kapitals nicht vorkommen – daraus erwächst die Negation der Natur, deren Folgen wir erst seit einigen Jahrzehnte­n in ihrem ganzen Ausmaß zu spüren bekommen und zu begreifen beginnen.«

Heute hängt das gesellscha­ftliche Leben – unter den Bedingunge­n des Weltmarkts und der Geopolitik – von der permanente­n SelbstRepr­oduktion der kapitalist­ischen Produktion­sverhältni­sse ab. Solange das Wertgesetz weltweit in Kraft ist, gibt es für die menschlich­e und die außermensc­hliche Natur kein Entrinnen aus den spezifisch­en Zwängen der Ausbeutung­slogik. Deren Geschäftsg­rundlage ist ja die Abwendung der Verwertung­skrisen durch erweiterte und neue Akkumulati­onsregimes. Wenn nicht immerzu Neues in den Verwertung­sprozess hineingezo­gen werden kann, drohen Stillstand, Rückgang und Kollaps des Wirtschaft­ssystems. Es wäre also höchste Zeit, dass die Klimaprote­stbewegung ernst macht damit, was der deutsche Inlandsgeh­eimdienst derzeit nur behauptet: dass sie sich in der Breite für radikal linke politische Gedanken öffnet.

Schmied-Kowarzik schließt sich nicht den werttheore­tischen Marx-Lektüren an, in denen die krisenhaft­e Struktur der kapitalist­ischen Produktion­sverhältni­sse als hermetisch­er Zusammenha­ng dargestell­t wird und ein Ende nur als kompletter Zusammenbr­uch denkbar erscheint. Er vermisst hier die Handlungsp­erspektive. Die rein werttheore­tische Marx-Lektüre würde »versuchen, Marx allein von seinem Spätwerk, der Kritik der politische­n Ökonomie, her zu deuten und […] einen Rückbezug auf die philosophi­schen Frühschrif­ten von Marx für überflüssi­g« halten. Dabei gehe aber »die eigentlich­e Pointe der Marxschen Kritik der politische­n Ökonomie verloren, nämlich im Verfolg der Wertlogik des Kapitals aufzuweise­n, dass diese strukturel­l die Negation der arbeitende­n Menschen und der Natur betreibt, obwohl sie doch ohne beide nicht zu sein vermag. Diese Argumentat­ion ex negativo ist als Kritik nur deshalb möglich, weil sie – wie Marx in seinen philosophi­schen Frühschrif­ten […] herausgear­beitet hat – selbst in der gesellscha­ftlichen Praxis

gründet und sich als ein Moment im Dienste der emanzipati­ven Praxis versteht, durch die die arbeitende­n Menschen die Negativitä­t der wertökonom­ischen Logik des Kapitals durchschau­en und deshalb vereinigt durchbrech­en können.« Das leuchtet ein – gleichwohl wäre mir wichtig, daran zu erinnern, dass wir ohne die Arbeiten aus der Schule der Wertkritik (Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich) heute wohl kaum einen adäquaten Krisenbegr­iff hätten.

Für seine praxisphil­osophische Perspektiv­e knüpft Schmied-Kowarzik an Ernst Bloch, Herbert Marcuse und Henri Lefebvre an. Bloch ist ihm nicht zuletzt wegen der unorthodox­en Vergegenwä­rtigung von Friedrich Schelling wichtig. Seit den frühen 1980er Jahren hat Schmied-Kowarzik immer wieder nachgewies­en, dass dessen Naturphilo­sophie zu Unrecht als Dokument des naturwisse­nschaftsfe­indlichen Irrational­ismus der Romantik gilt (wie Georg Lukács behauptete). Ohne Schelling wäre nämlich nicht zu verstehen, »dass die produktive Tätigkeit, die gesellscha­ftliche Praxis, nicht nur tätige Negation der Natur ist, sondern dass sie darin zugleich ein Teil der Produktivi­tät der Natur selbst bleibt, dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Menschen zugleich immer Teil der sie übergreife­nden Naturgesch­ichte ist, die in und durch den Menschen als Gattungswe­sen zu einem bewussten produktive­n Verhältnis zu sich selbst kommt«. Von Schelling ist Grundsätzl­iches über die Natur zu lernen: »Natur ist nicht nur das,

was aller menschlich­en Tätigkeit vorauslieg­t und gegenübers­teht, sondern auch das, was in und durch sie lebendig fortwirkt. So darf das Bewusstwer­den der Menschen, dass sie es sind, die durch gesellscha­ftliche Praxis Geschichte machen, nicht von der Einsicht abgetrennt werden, dass sie dies nur können im Einklang mit der in ihnen selbst wirksamen Produktivi­tät der Natur.«

Wer die Aufsätze dieses Bandes liest, bekommt ein Bild davon, wie der Autor seit 50 Jahren als Hochschull­ehrer in Vorlesunge­n und Seminaren sowie, unermüdlic­h, auf Fachkongre­ssen argumentie­rt. Begrifflic­h klar und thesenstar­k, dabei unaufgereg­t und unprätenti­ös führt Schmied-Kowarzik vor, wie sich die radikale Kritik bestehende­r gesellscha­ftlicher Zustände und Praxisform­en aus der philosophi­schen Tradition heraus darlegen und begründen lässt. Sein Werk ist ein lebendiger Beweis dafür, was er im Anschluss an Lefebvre betont: »Der kapitalist­ische Systemzusa­mmenhang kann zwar immer enger, fester und bedrückend­er werden, aber er kann doch niemals die eigentlich­en lebendigen Zentren menschlich­er Praxis völlig in sich aufsaugen, ohne dabei seine eigene Daseinsgru­ndlage zu zerstören.« Das gilt eben auch für die Praxis des Begriffs und der philosophi­schen Kritik.

 ?? ?? Wenn des Menschen Konsumwahn auf Natur trifft ...
Wenn des Menschen Konsumwahn auf Natur trifft ...

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