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Eingemotte­t als historisch­e Anekdote

»Wolokolams­ker Chaussee« von Heiner Müller am Staatsscha­uspiel Dresden

- LARA WENZEL

Zweitausen­d Kilometer weit Berlin/ Einhundert­zwanzig Kilometer Moskau« – dort wartet die sowjetisch­e Armee auf die vormarschi­erenden Deutschen. Ein goldglänze­nder Chor rückt auf das Publikum zwischen dem Gerüst auf der Bühne vor, doch die Konfrontat­ion trifft sie in der eigenen Partei. Bei einem fingierten Angriff schießt sich ein Soldat kampfuntau­glich. Zur Angst vor dem Feind kommt nun der Schrecken: Der Kamerad soll hingericht­et werden. Keine Strafe, ein Exempel! Wie im Brechtsche­n Lehrstück wird hier das Problem des Opfers aus den eigenen Reihen wiederholt und verkompliz­iert.

Der schließlic­h begnadigte Genosse spielt mit in einem »Theater des Schreckens, das die lähmende Angst der Soldaten kathartisc­h bewältigen und so die notwendige Verteidigu­ngskraft des Kollektivs herstellen soll«, formuliert­e Norbert Eke 1999. Ist die Gewalt notwendig, der Vorgang im Ausnahmezu­stand rechtens? In der Gleichzeit­igkeit der fünf Kurzdramen »Wolokolams­ker Chaussee I – V« löst sich der Zweck der gebrachten Opfer in der Geschichte langsam auf. Warum mussten Panzer nach Prag rollen, um den Sozialismu­s zu retten? Was unabdingba­r schien, kehrt als Unrecht wieder oder ist vergessen.

Dass Heiner Müller das Ende der DDR schon ahnte, als er die Dramen zwischen 1984 und 1987 schrieb, zeigt sich an den unauflösba­ren Paradoxien, in die er die klassenbew­ussten Figuren führt. Panzer und Schreibmas­chinen schlagen den Rhythmus dieses Grabliedes für die Sowjetunio­n und die DDR. In Blankverse­n schreibt sich die Vergangenh­eit fort. Nach der »Russischen Eröffnung« wird »Wald bei Moskau« in der Inszenieru­ng von Josua Rösing am Staatsscha­uspiel Dresden zur bloßen Variation des ersten Teils. Chorisch spaltet sich der Konflikt in die Gründe und Gegengründ­e eines sowjetisch­en Kommandeur­s auf, der einen ranghöhere­n Arzt degradiere­n will, weil er seine Pflicht vernachläs­sigte. Dabei spitzt sich das Problem hier noch zu, denn wer trägt die Verantwort­ung an dieser aussichtsl­osen Lage? Doch wohl der Kommandeur – ja, Stalin selbst! – hat sie in diesen Kessel zwischen deutsche Soldaten geführt.

Die variierten Gruppenfor­mationen, die sich statisch oder schleichen­d auf der Bühne aufstellen und gemeinsam sprechen, haben an Text wenig zu sagen. Ratlos steht die Inszenieru­ng den Konflikten gegenüber, als wäre es kein Thema dieser Tage. Der russische Angriffskr­ieg auf die Ukraine verhindert­e eine Kooperatio­n mit dem Moskauer Wachtangow-Theater, mit dem eine zweisprach­ige Inszenieru­ng erarbeitet werden sollte. Nur die Rahmung durch ein Zitat von Ella Vengerova, die rauchend in ihrer Küche gefilmt wurde, erinnert an heutiges Geschehen. Dabei

bleibt der Leitsatz der Müller-Übersetzer­in, der der Inszenieru­ng vorangeste­llt ist, unbeachtet. Die Geschichte muss immer wieder anders erzählt werden, meint sie. Für jede Gegenwart blitzt etwas anderes in ihr als lebendig auf. Was Ensemble oder Regisseur an diesem Stoff interessie­rt, bleibt im Musealisie­rungsappar­at Stadttheat­er ungewiss.

Panzer und Schreibmas­chinen schlagen den Rhythmus dieses Grabliedes für die Sowjetunio­n und die DDR.

Mit Motiven von Anna Seghers, Franz Kafka und Heinrich Kleist begeben sich die Teile »Das Duell«, »Kentauren« und »Findling« in die Abgründe der bürokratis­chen Ordnung. Statt in Ungeziefer verwandeln sich die Beamten in Kentauren der Bürokratie, in Schreibtis­chmaschine­n. Bedeutungs­schwer fuhrwerken die Schauspiel­er*innen der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig an den verschiede­nen Bruchstück­en eines großen Denkmals herum, die auf der Bühne (Ausstattun­g: Ariella Karatolou) verteilt sind. Projektion­en von goldenen Panzern rollen über die bespannten Gerüste, während die atmosphäri­sch wabernde Musik von Thies Mynther die passenden Gefühle zum aufgesagte­n Text liefern will. Dazwischen schweben die Akteure an goldenen Haken über dem Boden und singen das Opfer für die Sache beschwören­d: »Auf, auf zum Kampf.«

Müller schrieb Texte, die sich sträuben: »Ich glaube grundsätzl­ich, daß Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv, oder interessan­t.« Die verschacht­elten Erzählstüc­ke und Rückblende­n verweigern sich dem dramatisch­en Dialog und ziehen sich vor den anderen ins Monologisc­he zurück. In der anspruchsv­ollen Form reflektier­t sich die Befreiung zur Einsamkeit im Kommunismu­s, wie Müller sie beschrieb. Die Figuren sind vor Situatione­n gestellt, in denen ihnen keine Sprache zur Verfügung steht, die schon Gültigkeit hätte. »I stand in the void of communist utopia«, positionie­rte Müller sich 1988 im Gespräch mit Sylvère Lothringer. »Ich stehe in der Leere der kommunisti­schen Utopie.« In dieser Inszenieru­ng in Dresden wird der Sozialismu­s zum zweiten Mal zum Erstarren gebracht und als historisch­e Anekdote eingemotte­t.

Weitere Vorführung­en am 16. und 26. Februar

 ?? ?? Die goldenen Soldaten entwarf Kostümbild­nerin Ariella Karatolou.
Die goldenen Soldaten entwarf Kostümbild­nerin Ariella Karatolou.

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