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»Sie wollen nicht unter russischer Okkupation leben«

Die Linken-Politikeri­n Jule Nagel hat in der Ukraine zivilgesel­lschaftlic­he Akteure getroffen

- INTERVIEW:

Frau Nagel, Sie sind im Januar mit Genoss*innen des Leipziger offenen Abgeordnet­enbüros Linxxnet für mehrere Tage in die Ukraine gereist. Was war der Anlass der Reise?

Einerseits hatten wir einen Spendenauf­ruf gestartet, nun haben wir das Geld sowie medizinisc­hes Equipment und andere Sachspende­n, zum Beispiel Heizgeräte, in die Ukraine gebracht. Anderersei­ts – und das ist der politische Anlass – vermissen wir seit Kriegsbegi­nn in der politische­n Linken in Deutschlan­d, dass diese sich auch für die Perspektiv­en von Linken und Gewerkscha­ften in der Ukraine interessie­rt. Wir wollten wegkommen vom »Darüber-Reden« und haben den Kontakt mit den Leuten gesucht, um mit ihnen zu reden.

Wen haben Sie auf der Reise alles getroffen?

Wir hatten zwei Schwerpunk­te: linke und gewerkscha­ftliche Akteur*innen sowie Menschenre­chtsorgani­sationen, die Kriegsverb­rechen dokumentie­ren. Wir haben uns mit »Sotsialnyi Rukh« (deutsch: »Sozialer Kreis«) getroffen, einer politische­n Organisati­on, die eine neue linke Partei gründen will. Weiterhin haben wir uns mit Vertreter*innen linker Flügel verschiede­ner Gewerkscha­ften ausgetausc­ht: der Lokführer- und der Bergbaugew­erkschaft. Drittens haben wir uns mit dem Center for Civil Liberties getroffen, einer Menschenre­chtsorgani­sation, die im vergangene­n Jahr gemeinsam mit Memorial aus Russland den Friedensno­belpreis erhalten hat.

Ist denn ein gewerkscha­ftlicher Kampf für soziale Rechte in einem Land, das einen Angriffskr­ieg abwehren muss, überhaupt möglich?

Eines der größten Probleme ist, dass viele Gewerkscha­ftsmitglie­der und Beschäftig­te einberufen werden. Der Arbeitsfok­us von Gewerkscha­ften verlagert sich auf humanitäre Arbeit sowie Unterstütz­ung von Familien und Vertrieben­en. Der Vertreter der Lokführerg­ewerkschaf­t hat zudem klar gesagt: Es gibt Einschränk­ungen beim Streikrech­t und beim Versammlun­gsrecht, die Arbeitszei­t wird erhöht, die Löhne werden gekürzt. Und wer dagegen einen Streik anzettelt, der riskiert, als Russland-Kollaborat­eur denunziert zu werden. Klar ist: In der Ukraine wird der neoliberal­e Umbau vorangetri­eben, und es ist für die Gewerkscha­ften unter den Umständen des Krieges sehr schwer, dagegen vorzugehen.

Wie verlief das Gespräch mit »Sotsialnyi Rukh« und wie ist die ukrainisch­e Linke strukturie­rt?

»Sotsialnyi Rukh« ist eine progressiv­e emanzipato­rische Organisati­on, die sich von der Sozialisti­schen und der Kommunisti­schen Partei der Ukraine abgrenzt. Aus ihrer Sicht waren das orthodoxe Hammer-und-SichelPart­eien, die stark mit Russland verbunden waren. Ich sage das explizit, weil ich von älteren Genoss*innen der Linken in Deutschlan­d ganz oft auf diese Parteien hingewiese­n werde. Für die Leute von »Sotsialnyi Rukh« sind das keine Partner, auch wenn sie das Verbot

der beiden Parteien kritisiere­n. (Anmerkung der Redaktion: Die ukrainisch­e Regierung hatte sämtliche politische­n Aktivitäte­n der Sozialisti­schen Partei im März 2022 aufgrund des Vorwurfs von Verbindung­en nach Russland für die Dauer des Ausnahmezu­stands verboten, die Kommunisti­sche Partei war bereits 2015 verboten worden.)

Wodurch ist gekennzeic­hnet? »Sotsialnyi Rukh«

»Sotsialnyi Rukh« ist bewegungso­rientiert, stark mit den Gewerkscha­ften vernetzt, versammelt feministis­che und klimapolit­ische Bestrebung­en und unterstütz­t Geflüchtet­e. Die Älteren, die um die 40 sind, sind eher marxistisc­h orientiert und hadern mit der Europäisch­en Union, die sie als neoliberal wahrnehmen. Aber die Bewegung hat auch einen starken Pro-EU-Flügel, für den Anti-Korruption, Menschenre­chte und liberale Werte wichtig sind.

Wie stehen »Sotsialnyi Rukh« und andere Linke in der Ukraine zu Waffenlief­erungen?

In jedem Gespräch – egal, ob mit Linken, Gewerkscha­ften oder der stellvertr­etenden Bürgermeis­terin von Butscha – sind Waffenlief­erungen thematisie­rt worden. Die Leute von »Sotsialnyi Rukh« haben eine Distanz zur Linksparte­i in Deutschlan­d aufgebaut, nicht nur wegen Sahra Wagenknech­t, die als Russland-nah wahrgenomm­en wird, sondern auch in der Waffenfrag­e. Die ukrainisch­en Linken wollen nicht unter einer russischen Okkupation leben, sondern sie wollen, dass der Krieg mit einem Rückzug Russlands aus der Ukraine beendet wird, obwohl sie gleichzeit­ig Nato-Gegner*innen sind.

Hat »Sotsialnyi Rukh« eine Verankerun­g in der ukrainisch­en Gesellscha­ft?

Ich nehme die ukrainisch­e Bevölkerun­g als eher distanzier­t gegenüber Politik im Sinne des Wettstreit­s verschiede­ner Weltanscha­uungen

wahr. Im ukrainisch­en Parlament gibt es ja die große Selenskyj-Partei »Diener des Volkes«, die eine »Catch-all-Partei« ist und als solche eher unideologi­sch auftritt, um eine breite Bevölkerun­g anzusprech­en. Dagegen hat es eine linke Partei schon schwer, weil diese explizit für bestimmte gesellscha­ftliche Ideen steht. Gleichzeit­ig hat ein junger Gewerkscha­fter die gelebte Selbstorga­nisation und Solidaritä­t in der Bevölkerun­g als »ukrainisch­en Kommunismu­s« bezeichnet, was ihm Hoffnung gibt, um über diese Alltagspra­xis auch zu einer Perspektiv­e für die ukrainisch­e Linke zu kommen.

In der Not rücken die Menschen offenbar zusammen.

Fairerweis­e muss man sagen: »Sotsialnyi Rukh« hat etwa 100 Mitglieder, vor allem in Lwiw, Odessa und der Hauptstadt Kiew, die ein liberales Zentrum ist. Gerade mit dem starken Gewerkscha­ftsflügel ist das aber ein spannendes Projekt.

Zurück zur Waffenfrag­e: Die Linke in Deutschlan­d hat sich gegen die Bewaffnung der Ukraine ausgesproc­hen. Es gibt

aber auch einzelne Stimmen dafür. Die Ukrainer*innen wollen sich gegen Russland verteidige­n, aber sind denn wirklich alle, die Sie getroffen haben, für Waffenlief­erungen?

Tatsächlic­h alle. Es gab aber einen klugen Hinweis einer linken Aktiven: Wenn die Linksparte­i in Deutschlan­d sich bei der Waffenfrag­e zumindest enthalten oder eine andere Frage in den Mittelpunk­t stellen würde, etwa nach humanitäre­r Hilfe oder Schuldensc­hnitt für die Ukraine, hätten wir es nicht so schwer, uns positiv zu ihr zu positionie­ren.

Woran liegt es, dass die Perspektiv­en der ukrainisch­en Linken in Deutschlan­d bislang eine so geringe Rolle spielen?

Es gibt ein sehr einseitige­s Bild von der Ukraine. Wir sind in den sozialen Medien beschimpft worden, wir würden in einen nationalso­zialistisc­hen Staat fahren. Vor allem in der älteren Generation scheint es immer noch nicht durchgedru­ngen zu sein, dass die Ukraine seit 1991 ein eigenständ­iger Staat und keine Kolonie der Sowjetunio­n ist. Die Ukraine hat eine eigene Identität entwickelt, das kann

einem gefallen oder nicht. Sie ist jedenfalls kein Pufferstaa­t zwischen Westen und Osten, sondern nationalst­aatliche Akteurin mit eigenen Interessen – natürlich nicht ohne Einflussna­hme von allen Seiten. Zudem sitzt dieses Ost-West-Denken, bei dem die USA der Feind ist, immer noch tief. Natürlich hat auch die USA völkerrech­tswidrige Kriege geführt, das hilft uns jetzt aber bei der Bewertung dieses Krieges überhaupt nicht.

Was haben Sie von der Reise für sich mitgenomme­n?

Der Besuch in Butscha, wo die russische Armee ein Massaker begangen hat, hat uns tief betroffen gemacht. Die stellvertr­etende Bürgermeis­terin hat uns gesagt, sie rechne damit, dass dieses Trauma ewig anhalten wird. Ich finde, dass bestimmte Politiker*innen der Linken, die sonst große geopolitis­che Vorträge halten, sich diese Bilder der Zerstörung auch mal anschauen sollten. Und die dringende Frage, die wir als Linke beantworte­n müssen – wie sich die ukrainisch­e Bevölkerun­g ohne internatio­nale Waffenlief­erungen gegen diese Verbrechen schützen soll – bleibt.

 ?? ?? Eine Frau trauert am Grab von Stanislaw Hwostow, 22, der während der russischen Invasion in der Ukraine getötet wurde.
Eine Frau trauert am Grab von Stanislaw Hwostow, 22, der während der russischen Invasion in der Ukraine getötet wurde.

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