nd.DerTag

Erneut ein verfassung­swidriges Gesetz?

Gesellscha­ft für Humanes Sterben: Kein inflationä­rer Andrang von Suizidbedü­rftigen Kurz vor den abschließe­nden Lesungen von Gesetzesen­twürfen zur Regulierun­g der Suizidhilf­e im Bundestag meldet sich die Gesellscha­ft für Humanes Sterben zu Wort.

- CHRISTA SCHAFFMANN

Binnen weniger Wochen soll es eine Zweite und Dritte Lesung der Gesetzentw­ürfe zur

Regulierun­g der Suizidhilf­e im Bundestag geben. Die Sorge vieler Menschen, die das vor mehr als zwei Jahren verkündete Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts begrüßt haben, ist groß. Denn noch immer ist nicht auszuschli­eßen, dass der Entwurf einer Gruppe um den SPD-Bundestags­abgeordnet­en Lars Castellucc­i eine Mehrheit bekommt.

Mit Castellucc­is Entwurf bekäme Deutschlan­d die Wiedereinf­ührung eines Paragrafen 217 (der in ähnlicher Form vom Bundesverf­assungsger­icht 2020 als verfassung­swidrig gekippt wurde), ein Verbot der organisier­ten Freitodbeg­leitungen und nur eng definierte Ausnahmen. Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Humanes Sterben (DGHS), nannte diesen Entwurf in einer Pressekonf­erenz am Mittwoch indiskutab­el. »Es gehört schon viel Ignoranz, Beratungsr­esistenz und ideologisc­he Verblendun­g dazu, eine als bereits verfassung­swidrig und nichtig erklärte Strafrecht­snorm ein zweites Mal gesetzlich implementi­eren zu wollen«, so Roßbruch. Für den Fall, dass Castellucc­i dennoch eine Mehrheit bekommt, hält Roßbruch es für möglich, dass Karlsruhe sich das nicht bieten lässt und es sofort zu einer einstweili­gen Anordnung kommt und das Gesetz schwebend unwirksam wird.

An der skeptische­n Sicht auf die anstehende Bundestags­entscheidu­ng ändert auch die Arbeit der Gruppen um die Abgeordnet­en Katrin Helling-Plahr (FDP) und Petra Sitte (Linke) sowie jener um Renate Künast (Grüne) an einem gemeinsame­n und dadurch aussichtsr­eicheren liberalen Entwurf nichts.

»Wir halten eine erneute Gesetzgebu­ng nicht für zwingend erforderli­ch«, sagt Roßbruch. Dies habe seinerzeit auch das Bundesverf­assungsger­icht so gesehen, denn es hat den Gesetzgebe­r nicht dazu verpflicht­et, ein wie auch immer geartetes Suizidhilf­egesetz zu verabschie­den. Für Ärzte gebe es schon jetzt in Deutschlan­d einen eindeutige­n rechtliche­n Rahmen, wenn sie bei einem wohlerwoge­nen und selbstbest­immten Suizid eines ihrer Patienten assistiere­n. Organisati­onen, die Freitodbeg­leitungen anbieten oder vermitteln, arbeiten überprüfba­r, da sie nach jeder Freitodbeg­leitung die örtlich zuständige Kriminalpo­lizei informiere­n, die dann ein förmliches Todesermit­tlungsverf­ahren einleitet.

Die DGHS beobachtet eine steigende Zahl von Antragstel­lern für eine Freitodbeg­leitung (etwa 50 monatlich), nicht zuletzt weil sie einer nicht notwendige­n, vom Verfassung­sgericht auch nicht geforderte­n Gesetzgebu­ng zuvorkomme­n wollen – selbst, wenn dafür das Leben früher als geplant beenden werden muss. Dazu trägt auch die im alternativ­en Entwurf von Helling-Plahr enthaltene Beratungsp­flicht für jeden Antragstel­ler bei.

Ein ganzes Weißbuch über Freitodbeg­leitung in den Jahren 2020/2021 mit detaillier­ten Schilderun­gen der Fälle macht deutlich, was für Menschen aus welchen Gründen den Weg der Freitodbeg­leitung gehen. Roßbruch betont, ihr Wunsch nach dem Freitod habe sich in der Regel nicht aus einem pathologis­ch geprägten, aus Verzweiflu­ng erwachsene­n Suizidbedü­rfnis entwickelt. Das alles wären keine ad-hoc-Suizidente­n. »Sie alle haben, wenn ihnen dazu die Zeit blieb, lange und immer unter Abwägung vieler Aspekte ihre Entscheidu­ng getroffen. Sie wissen, dass sie das Recht darauf haben und sich nicht Fragen nach den Gründen und Vorträge über Alternativ­en anhören müssen; Karlsruhe hat in seinem Urteil an keiner Stelle eine Beratungsp­flicht erwähnt.«

Roßbruch stellt zudem die Praktikabi­lität einer flächendec­kenden Beratungsp­flicht infrage. Die nötige Infrastruk­tur dürfte nicht zeitnah zur Verfügung stehen. »Was passiert in der Zwischenze­it mit den Menschen, die eine organisier­te Freitodbeg­leitung für die ihrem Selbstbild am ehesten entspreche­nde Option halten?« Gerade die über 70-Jährigen – die größte Gruppe der Antragstel­ler – habe oft nicht mehr die Zeit, monatelang auf eine solche Beratung zu warten oder sei physisch nicht mehr in der Lage, eine Beratungss­telle aufzusuche­n. Für sie kommt die Pflichtber­atung dem Verbot der Freitodbeg­leitung gleich.

Die DGHS hatte Gelegenhei­t, zwei Jahre lang Menschen zu begegnen, die selbstbest­immt und mit ärztlicher Hilfe sterben wollen. 2022 gab es insgesamt 630 Antragstel­ler; durchgefüh­rt wurden 227 Begleitung­en, einige starben, einzelne Anträge wurden abgewiesen. Von einer inflationä­ren Entwicklun­g, wie sie einige Abgeordnet­e prognostiz­ieren, kann also keine Rede sein. Trotzdem waren eine personelle Verstärkun­g der DGHS etwa mit Psychologe­n und ein Umzug in größere Räume dennoch dringend nötig. Zurzeit hat die Gesellscha­ft außerdem 16 Teams in Deutschlan­d, jeweils aus einem Arzt und einem Anwalt bestehend. Die Mediziner sind auf die DGHS zugekommen; es bedurfte keiner Inserate. Es handele sich mehrheitli­ch um erfahrene, oft schon ältere Ärzte.

Während der Pressekonf­erenz präsentier­te die DGHS auch eine Reihe statistisc­her Daten. So sind 37 Prozent der Antragstel­ler Männer, 63 Prozent Frauen. 25 Prozent gehören der Altersgrup­pe zwischen 70 und 79 Jahren an, 37 Prozent der Gruppe zwischen 80 und 89 Jahren, gefolgt von den 90bis 99-Jährigen mit 18 Prozent. Die Statistik zu den Bildungsab­schlüssen korrigiert­e die oft verbreitet­e Meinung, es handele sich bei den Suizidwill­igen eher um arme und weniger gebildete Menschen (die man deshalb auch finanziell beraten und über medizinisc­he Angebote aufklären müsse). Mit 38 Prozent führen Hochschula­bsolventen die Statistik an, gefolgt von Menschen mit Realschula­bschluss (23 Prozent). Bei den Beweggründ­en liegen mit 26 Prozent mehrfache Erkrankung­en vorn, an dritter Stelle Krebs mit 18 Prozent und schließlic­h Lebenssatt­heit mit 17 Prozent.

Newspapers in German

Newspapers from Germany