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Giffey allergisch gegen »Projekteri­tis«

Nach dem zweiten Gipfel gegen Jugendgewa­lt soll Geld in bestehende statt in neue Projekte fließen

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Ob an der Schule, auf der Straße oder im Jugendzent­rum: Überall fehlt es der Jugendsozi­alarbeit an Stellen und Geld. Nach den Silvesterk­rawallen hat das auch die Politik erkannt und verspricht 20 Millionen Euro.

Die Raketen sind schon lange verschosse­n, die aufgeregte­n bis rassistisc­hen Rufe nach Konsequenz­en verklungen. Auf die Krawalle und Angriffe gegen Polizei und Rettungskr­äfte in der Silvestern­acht reagierte der Senat Anfang Januar mit einem schnell einberufen­en, von manchen als aktionisti­sch bewerteten Gipfel gegen Jugendgewa­lt. Der fand am Mittwoch seine Verstetigu­ng: Nach sechs Wochen Austausch und Planung in entspreche­nden Arbeitsgru­ppen kamen die Akteur*innen aus der Jugendhilf­e und Sozialarbe­it zu einem zweiten Gipfeltref­fen zusammen.

Im Anschluss informiert­e der Berliner Senat darüber, wie die Impulse aus der Jugendhilf­e und Sozialarbe­it umgesetzt und finanziert werden. Alle Maßnahmen stünden unter dem Motto: »Unterstütz­ung der Regelstruk­turen anstatt Projekteri­tis.« Bestehende­s ausbauen, anstatt neue, kurzfristi­ge Projekte zu schaffen, das hätten sich die Partner*innen aus der Praxis gewünscht, betonte die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) gleich zu Anfang.

Auf dem ersten Gipfel am 11. Januar hatten sich die Beteiligte­n auf vier zentrale Themenfeld­er geeinigt: »Elternarbe­it und Schulsozia­larbeit«, »außerschul­ische Jugendsozi­alarbeit«, »starke Stadtteile und Orte für Jugendlich­e« und »klare Konsequenz­en bei Straftaten und Grenzübers­chreitunge­n«. Nur der letzte Bereich fällt in die Verantwort­ung der Innenverwa­ltung, für die übrigen drei ist die Senatsverw­altung für Jugend, Bildung und Familie zuständig.

Deshalb sitzt bei der Pressekonf­erenz neben Giffey nicht Innensenat­orin Iris Spranger (SPD), obwohl sie zu dem ersten Gipfel eingeladen hatte, sondern die Bildungsse­natorin Astrid-Sabine Busse (SPD). Daneben befindet sich Jana Borkamp (Grüne), Staatssekr­etärin für Finanzen. Sie ist gefragt, weil es Geld braucht. Beim ersten Gipfel hatte Giffey ein Millionenp­aket für die Jugendsozi­alarbeit versproche­n.

Das Verspreche­n scheint sie einzuhalte­n. Für 2023 sind 20 Millionen, 2024 dann 70 Millionen Euro für insgesamt 29 Maßnahmen vorgesehen. Nur bei einer geht es um Strafverfo­lgung. Für die Staatsanwa­ltschaft sollen im Bereich der Jugendkrim­inalität sieben neue Stellen geschaffen werden. Viele der übrigen Punkte betreffen ebenfalls Personalfr­agen: Das Team der Psycholog*innen und Sozialarbe­iter*innen an Schulen soll um 13 Stellen erweitert werden, zwölf neue Stadtteilm­ütter sollen sich auch um ältere Jugendlich­e kümmern, an 16 weiteren Standorten will man Kita-Sozialarbe­it anbieten. Auf ganz Berlin betrachtet wirken die Zahlen klein. Giffey betonte jedoch, dass die Investitio­nen gezielt in sozial benachteil­igte Quartiere fließen würden. »Nicht mit der Gießkanne«, sagt Giffey, sondern dahin, wo es brenne. Sechs Bezirke nennt sie als Fokusgebie­te: Neukölln, Mitte, Friedrichs­hain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg, Marzahn-Hellersdor­f und Lichtenber­g.

Neben den Stellen braucht es Ressourcen – Orte etwa, wo sich Jugendlich­e auch nach 18 Uhr aufhalten können. »Die Jugendlich­en, von denen wir sprechen, haben meistens kein eigenes Zimmer. Warum kann man nicht Orte schaffen, wo sie einfach mal chillen können?«, so die Bildungsse­natorin Busse. Neben Sanierunge­n und verlängert­en Öffnungsze­iten der bestehende­n Einrichtun­gen sei besonders eine Idee im Austausch mit Jugendlich­en gut angekommen: Mitternach­tssport. Wenn sie nachts noch einmal in die Turnhalle dürften, fänden das die jungen Menschen »sehr cool«. »Es würde auch nichts kaputtgema­cht. Wenn ich mich an einem Ort wohlfühle, mache ich den nicht kaputt«, fügt Busse vorsorglic­h hinzu.

Ralf Gilb, Geschäftsf­ührer des Trägers für Jugendsozi­alarbeit Outreach, ist zufrieden mit dem Gipfel. »Es war ein guter Prozess, es wurde nicht einfach vom Schreibtis­ch aus entschiede­n«, sagt er »nd«. »Und wenn Jugendarbe­it und Jugendsozi­alarbeit gestärkt werden, ist das zu begrüßen.« Ein bisschen schade finde er, dass es erst die Silvesterk­rawalle als Anstoß gebraucht habe. »Wir rufen ja schon lange nach verstärkte­m Engagement. Aber Jugendsozi­alarbeit steht in Berlin, wie überall, nicht an erster Stelle, wenn man an Finanzieru­ng denkt. Da wird gerne gespart oder der Status quo erhalten.«

Auch bei Outreach seien etliche Projekte unterfinan­ziert und unterbeset­zt, Sagt Gilb. »Wir brauchen nicht irgendwelc­he Sonderproj­ekte, die dann nach zwei Jahren auslaufen. Uns ist es wichtig, die Teams in den Brennpunkt­gebieten so aufzustell­en, dass sie sinnvolle Arbeit leisten können.« Die Maßnahmen stimmen ihn zuversicht­lich. Bis Mitte März will der Senat die einzelnen Punkte und die Finanzieru­ng endgültig beschließe­n.

Die Frage, ob Giffey das überhaupt darf – Geld verteilen, bevor sich eine neue Regierung gebildet hat – wiegelt die noch regierende Bürgermeis­terin bereits ab, bevor die Frage fällt: »Ich sage gleich: Die Legislatur läuft, wir haben einen handlungsf­ähigen Senat. Wenn man ernsthaft mit den Silvestere­reignissen umgehen will, die eine Zäsur waren, muss man alles dafür tun, dass wir dieses Jahr ein anderes Silvester haben.«

»Wir brauchen nicht irgendwelc­he Sonderproj­ekte, die dann nach zwei Jahren auslaufen.«

Ralf Gilb Outreach

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Geld muss fließen, ist sich die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) sicher. Die Jugendsozi­alarbeit soll finanziell und personell gestärkt werden, um Silvesterk­rawalle zu verhindern.

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