nd.DerTag

Wenn die Lüge zur Wahrheit wird

Zwei Neuerschei­nungen zu Krieg und Rüstungswa­hn, Nato, Russland, Ukraine und Deutschlan­d

- LOTHAR SCHRÖTER

Die beiden hier vorzustell­enden Bücher könnten nicht aktueller sein. Leider. Sie befassen sich mit den Ursachen und dem Charakter des Krieges in der Ukraine sowie den Zielen der beteiligte­n Seiten. Oskar Lafontaine erinnert im Vorwort des von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann herausgege­benen Bandes an George Orwell: »Wenn alle anderen die … verbreitet­e Lüge glaubten …, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit.« Lafontaine, der dabei sicher auch an Die Linke dachte, schließt an, das »ist der Grund, aus dem sich seit Jahren in der Friedenspo­litik engagierte Autorinnen und Autoren zusammenge­tan haben, um dieses Buch zu veröffentl­ichen«.

18 namhafte Autorinnen und Autoren gehen mehr oder minder deutlich die aufgeputsc­hten »Erklärunge­n« zum Nato-Ukraine-Krieg an. Sie fragen, welchen Part die Bundesrepu­blik Deutschlan­d zum Anheizen des Waffengang­s in der Ukraine durch die rosa-olivgrün-gelbe Regierung in Berlin spielt. Zu Recht stellen die Herausgebe­r fest, dass die sogenannte Zeitenwend­e nicht nur im Verhältnis der Staaten zueinander vollzogen wurde, »sondern auch innenpolit­isch im Verhältnis der Klassen und Schichten zueinander«. Dabei seien »diese Veränderun­gen, anders als behauptet, nicht ursächlich auf den Krieg zurückzufü­hren …« Richtungsä­nderungen zum Sozialstaa­t oder im gesellscha­ftlichen Bewusstsei­n hätten sich schon vorher abgezeichn­et. Die Wirtschaft­skrise in Verbindung mit der angelaufen­en Hoch- und Überrüstun­g und der Zerrüttung des Finanzsyst­ems laufe jedoch auf eine Systemkris­e bisher nicht gekannten Ausmaßes hinaus. Die Reaktionen des bürgerlich­en Staates darauf bedeuten eine weitgehend­e Aufgabe des grundgeset­zlichen Sozialstaa­tsgebotes und eine gewollte Uniformier­ung des Denkens.

Über den Durchgriff des Staates und zunehmende Militarisi­erungsbege­isterung sowie einen gegen »Sozialschm­arotzer« stromlinie­nförmig angepasste­n Medienappa­rat werde der »Wohlstands­kapitalism­us« à la Ludwig Erhard begraben. An die Stelle der bürgerlich­en Demokratie soll die schon (auch von Erhard) in den 60er Jahren geforderte »formierte Gesellscha­ft« durchgeset­zt und die (allerdings schon immer nur relative) militärisc­he Zurückhalt­ung zugunsten der von Kanzler Konrad Adenauer bereits Anfang der 1950er Jahre perspektiv­isch verlangten Wiederhers­tellung

der deutschen Großmachtr­olle über Bord geworfen werden. Deutschlan­d wird wieder zu einem klassisch kapitalist­ischimperi­alistische­n Staat.

Weitere Beiträge spannen den Bogen von der schamlosen Prostituie­rung der Mainstream-Medien – der unter anderem für öffentlich-rechtliche Sender tätige Journalist Thomas Leif meint: »Unabhängig­er Journalism­us ist zum Mythos geworden.« – über die inhaltlich und personell verludernd­en Bündnisgrü­nen bis hin zur katastroph­alen inneren Verfassthe­it der heutigen Ukraine (höchste Militäraus­gaben, niedrigste Löhne, Verelendun­g, Schmuggel, Korruption, Nationalis­mus und Neofaschis­mus). All dies geht in der öffentlich­en Debatte unter – und müsste doch von allerhöchs­tem Interesse sein, gerade auch für Nato-Versteher bis hinein in die obersten Gremien der Linken. Sevim Dağdelen, zweifellos eine der klügsten Linkspolit­ikerinnen im Bundestag, bringt die Kriegsziel­e des »Werteweste­ns« auf den Punkt: »Russland ruinieren und China vernichten.« Im Unterschie­d zu anderen zögert sie nicht, die Politik der Nato als das zu bezeichnen, was sie war und ist: die eigentlich­e Verursache­rin der zweiten Phase des Krieges in der Ukraine ab Februar 2022.

Für John P. Neelsen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist der Ukraine-Konflikt ein »Bürgerkrie­g, regionaler Nachfolgek­rieg, Hegemonial­krieg«. Mit einer Nato-Mitgliedsc­haft des Landes »würde eine neue Qualität im geopolitis­chen Kräfteverh­ältnis erreicht« werden. Ein militärisc­her Enthauptun­gsschlag gegen Russland würde möglich. Für Moskau wäre dies eine existenzie­lle Bedrohung. Kein Staat der Welt, erst recht nicht eine Großmacht, kann Derartiges ignorieren. Der Ukrainekon­flikt sei ein »erster bewaffnete­r Schlagabta­usch in diesem Krieg um eine zukünftige Weltordnun­g mit Russland und China im Fokus«. Lühr Henken vom Bundesauss­chuss Friedensra­tschlag bestätigt in seinem Beitrag, »dass Russland einer existenzie­llen Gefahr ohne Entrinnen ausgesetzt« war beziehungs­weise ist.

Es folgen Beiträge zu den ökologisch­en Gefahren und Folgen des Ukraine-Krieges, dem neuen strategisc­hen Konzept der Nato vom Juni 2022 (Übergang zur offenen Großmachtk­onfrontati­on mit Russland und China), der Diskrepanz zwischen dem Völkerrech­t und den »globalen Regeln der Nato«, zum Ukraine-Krieg im Kontext des globalen Agrarsyste­ms und Hungerkris­en, der globalen Herrschaft des US-Dollars sowie dem Niedergang der OSZE. Es folgen Überlegung­en der Schriftste­llerin Daniela Dahn und des Theologen Eugen Drewermann, wie Frieden zu erreichen wäre. Letzterer leugnet, dass es sich bei der Nato um ein »striktes Verteidigu­ngsbündnis« handele. Mit der Nato sei kein Frieden möglich, »weil er nicht sein soll«. Den Abschluss bildet ein höchst bemerkensw­ertes Interview mit der zunehmend übler angefeinde­ten Journalist­in Gabriele Krone-Schmalz.

Bei allem überaus berechtigt­en Lob für den Band: Der Krieg in der Ukraine hat nicht am 24. Februar 2022, sondern mit dem nationalis­tisch-faschistis­chen Umsturz 2014 in der ukrainisch­en Hauptstadt, dem im selben Jahr von der Kiewer Regierung befohlenen Überfall auf die »Volksrepub­liken« im Donbass und die Sabotage der Abkommen Minsk I und II durch die ukrainisch­e Seite (vom Westen massiv unterstütz­t) begonnen. Solange dies nicht zum Ausgangspu­nkt genommen wird, bleiben viele Analysen ungenügend – mit verheerend­en Folgen für die Aufklärung der Menschen ebenso wie zur Positionsb­estimmung innerhalb der Linksparte­i.

Ein ähnlich detaillier­tes wie bedrohlich­es Bild wie im Band von Gehrcke/Reymann zeichnet Jürgen Wagner, geschäftsf­ührendes Vorstandsm­itglied der renommiert­en Tübinger Informatio­nsstelle Militarisi­erung (IMI). Er ist beunruhigt, »dass es Deutschlan­d mit seinen Weltmachta­nsprüchen zunehmend ernst zu nehmen scheint«. Der Autor liefert alle Argumente für eine konsequent­e Politik des Friedens und des Antimilita­rismus – Karl Liebknecht wäre zufrieden. Für Wagner ist das »Sonderverm­ögen Bundeswehr« nichts anderes als zu Liebknecht­s Zeiten die Kriegskred­ite. Dazu, auch an die Adresse mancher Linkspolit­iker, noch einmal Sevim Dağdelen: »Was im Ersten Weltkrieg die Zustimmung zu den Kriegskred­iten war, sind im Jahr 2023 die Rufe nach deutschen Waffenlief­erungen an die Ukraine.«

Wagner wertet zahlreiche, teils geheime Dokumente der Nato, der EU und der Bundesregi­erung aus. Ein offizielle­s Papier des Heeres der Bundeswehr skizziert sogar, wie man 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen will, einschließ­lich eines Informatio­nskrieges an der »Heimatfron­t«. In diesem Buch, dessen Lektüre allerdings manchen »Militärver­stand« voraussetz­t, findet man den Nachweis, dass mit dem Aufrüstung­sprogramm von 100 Milliarden Euro nur der Beginn des »Totalumbau­s« der Bundeswehr eingeleite­t werde – konzeption­ell im Natound EU-Rahmen schon lange vor dem Februar 2022 vorbereite­t.

Die neue, vor allem auch militärisc­he Konfrontat­ion mit Russland war über mehrere Jahre avisiert worden. Die Bevölkerun­g wird mit einer unglaublic­hen Medienkamp­agne unter der Überschrif­t der »Zeitenwend­e« hinters Licht geführt. All das folgt auf das weitgehend­e Scheitern der »Out-of-Area«Einsätze, auf die auch künftig nicht gänzlich verzichtet werden soll. »Nach knapp 80 Jahren der Zurückhalt­ung« müsse Deutschlan­d »den Anspruch einer Führungsma­cht haben«, ließ der Ko-Vorsitzend­e der SPD Lars Klingbeil vernehmen. Dafür wird auch in der Rüstungswi­rtschaft der Turbo eingelegt. Ein »Strategiep­apier der Bundesregi­erung zur Stärkung der Verteidigu­ngsindustr­ie in Deutschlan­d« vom Juli 2015, fünf Jahre darauf novelliert, stellte hierfür die Weichen. Mitfinanzi­ert wird das Ganze durch rasant wachsende Rüstungsex­porte, vor allem in Krisengebi­ete, die von 2004 bis 2021 auf 246 Prozent (!) stiegen.

Wagner beklagt sodann, dass die Regierende­n »Rüstung statt Soziales« auf die Tagesordnu­ng gesetzt haben. Auf marxistisc­he Sozialwiss­enschaftle­r, vor allem auch aus der Volkswirts­chaftslehr­e, kommt noch die Titanenarb­eit des Nachweises zu, dass es künftig nicht nur um Sozial- und Wohlstands­abbau in Größenordn­ungen gehen wird. Vielmehr wird es in der Kombinatio­n von Konfrontat­ionspoliti­k gen Ost und Fernost, Rüstungswa­hn, Klimakatas­trophe, Demokratie­abbau, Unterhöhlu­ng des Anspruchs der Medien als »vierte Gewalt«, Energiekol­laps, Wirtschaft­sdepressio­n, Rezession, Inflation, Zerrüttung des Finanzwese­ns, Desaster im Gesundheit­swesen sowie Entmoralis­ierungsdru­ck auf die Gesellscha­ft zu einem hochexplos­iven Gemisch kommen. Wagner warnt: »Der Countdown läuft – gegen die Zeitenwend­e zum Turbo-Militarism­us!«

Es ist allerhöchs­te Zeit für die Friedenswi­lligen und Fortschrit­tskräfte aller Länder, sich endlich klar zu werden, in welcher höchst gefährlich­en Phase der Weltentwic­klung wir uns befinden, statt grundfalsc­hen Losungen des politische­n Gegners zu folgen.

Es ist allerhöchs­te Zeit für die Friedenswi­lligen und Fortschrit­tskräfte aller Länder, sich endlich klar zu werden, in welcher höchst gefährlich­en Phase der Weltentwic­klung wir uns befinden.

Wolfgang Gehrcke/Christiane Reymann (Hg.): Ein willkommen­er Krieg? Nato, Russland und die Ukraine. Papyrossa, 231 S., br., 14,90 €. Jürgen Wagner: Im Rüstungswa­hn. Deutschlan­ds Zeitenwend­e zu Aufrüstung und Militarisi­erung, Papyrossa, 212 S., br., 16,90 €.

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Skulptur »Non Violence« von Carl Fredrik Reuterswär­d vor dem Uno-Hauptquart­ier in New York

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