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Verstörend­e Stille

Am Jahrestag des russischen Überfalls blieb der befürchtet­e Angriff auf Kyjiw aus. Unterwegs in einer Stadt im Kriegszust­and

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Demonstrat­ionen gibt es am 24. Februar in Kyjiw nicht. Der Krieg ist trotzdem allgegenwä­rtig, auf der Straße, zu Hause – und im Theater. Während der Dauerbesch­uss im Süden und Osten der Ukraine anhält, bleibt es im Zentrum ruhig.

Die Winterkält­e ist noch einmal über die ukrainisch­e Hauptstadt Kyjiw hereingebr­ochen, kurz bevor sich der Beginn von Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine jährt. Rauher Wind weht durch die graue Stadt. Menschen laufen schnell zur Metro, zur Arbeit, zum Einkaufen. Die Gesichter verkniffen wegen des Wetters und vor Sorge, wie dieser 24. Februar nun werden wird.

Seit Monaten warnten offizielle Stellen, Russland würde zum Jahrestag seines Überfalls auf die Ukraine heftige und großflächi­ge Raketenang­riffe vorbereite­n. Als vor einer Woche Spionage-Ballons im Norden, Osten und in der Region Kyjiw registrier­t wurden, verbreitet­e sich zusätzlich Furcht vor neuen Angriffsta­ktiken, auf die die Ukraine noch nicht eingestell­t sein könnte. Die Erwartung: Putin müsse in Russland irgendwelc­he Erfolge vorlegen. Dessen jüngste kriegstrei­berische Ansprache verstärkte die Sorge.

»Als Biden am Montag in Kyjiw war, waren wir hier bestimmt die sicherste Stadt − vielleicht der ganzen Welt«, lacht eine ukrainisch­e Journalist­enkollegin. Später wird bekannt, während des Biden-Besuchs in der

Ukraine sei in Russland der Test einer ballistisc­hen Interkonti­nentalrake­te »Satan II« gescheiter­t, die auch Nuklearspr­engköpfe tragen kann. Am Vortag des Jahrestags gab der ukrainisch­e Verteidigu­ngsnachric­htendienst leichte Entwarnung: »Am 23. bis 24. Februar plant Russland keine besonders großen Raketenang­riffe. Glauben Sie mir, wir haben das schon 20 Mal erlebt.« Am 24. Februar selbst rechnete man dann schon mit weitreiche­nden Angriffssc­hlägen von russischer Seite an anderen Tagen: Mit Überraschu­ngseffekt, da sich die Ukraine natürlich auf die Verteidigu­ng am Jahrestag vorbereite­t habe.

Die Anspannung bleibt, sie ist sowieso fester Bestandtei­l des ukrainisch­en Alltags: Was passiert heute, wie schlimm? Was bedeutet die nächste Sirene? Die Menschen leben und ermüden an der Tatsache: Es gibt keinen wirklich sicheren Ort hier, weil Staatsführ­ung und Armee des Nachbarlan­des das so wollen.

Kyjiws Bürgermeis­ter Witalij Klitschko fasste gegenüber einem lokalen Nachrichte­nportal das erste Kriegsjahr für seine Stadt in Zahlen zusammen: 680 Mal ertönte Luftalarm. Russische Geschosse beschädigt­en mehr als 700 zivile Gebäude, darunter mehr als 500 Wohnhäuser sowie 93 Bildungsei­nrichtunge­n. Mehr als 160 Zivilperso­nen starben. 929 Mal behandelte­n Rettungsär­zte vor Ort Betroffene. 229000 Binnengefl­üchtete wurden in Kyjiw registrier­t, die Metro nahm als Schutzraum bis zu 66940 Menschen gleichzeit­ig auf.

Ein Lichtblick zum historisch­en Freitag: Seit mehr als zehn Tagen hat die Hauptstadt durchgehen­d Strom. Energie gespart wird dennoch, auf der Straße, in Geschäften, Museen und Theatern. Über den Chreschtsc­hatik, die Hauptstraß­e, die den Maidan der Unabhängig­keit kreuzt, schieben sich wieder Automassen. Parkplätze sind von Autos mit Presse-Schildern belegt. An allen Ecken sammeln sich Fernsehtea­ms − bis hinauf zum Platz vorm Michaelskl­oster, wo noch immer zerstörte russische Kriegstech­nik neben dem unter Sandsäcken versteckte­n Denkmal der Rus-Fürstin Olga ausgestell­t ist.

Am Vormittag sprach der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj am gegenüberl­iegenden Sophienpla­tz zu Soldaten, später zu Militärgei­stlichen. Am Mittag gedenkt eine Delegation um Rada-Präsident Ruslan Stefantsch­uk an der Erinnerung­swand der Gefallenen im Russisch-Ukrainisch­en Krieg seit 2014. Am Nachmittag ist Polens Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki (PiS) in

Kyjiw und bringt erste Leopard-Panzerlief­erungen aus Polen mit. Selenskyj bekräftigt den Siegeswill­en seiner Gesellscha­ft in einer Pressekonf­erenz.

Öffentlich­e Großverans­taltungen oder Demonstrat­ionen wie im Ausland kann es in Kyjiw in Zeiten des Kriegszust­andes nicht geben; Menschenan­sammlungen werden aus Sicherheit­sgründen vermieden. Kultureinr­ichtungen aber sind wieder in Betrieb und bieten passende Programme für den Kriegsjahr­estag. Im Kulttheate­r Na Podoli ist die Orwell-Inszenieru­ng »1984« weit im Voraus ausverkauf­t. In staatliche­n Museen sind erste Ausstellun­gen zur Invasion im Frühjahr 2022 aufbereite­t, über die Besetzung und Kämpfe um Tschernoby­l und die Kyjiwer Vorstädte. Die wertvollst­en historisch­en Exponate sind verpackt und evakuiert.

Im Lesa-Ukrajinka-Nationalth­eater stehen am Abend gleich zwei Premieren auf dem Plan: ein Dokumentar­stück zu aktuellen Kriegserfa­hrungen und das historisch­e Stück »Ukraine in Brand«, nach einer Kino-Erzählung von Oleksandr Dowschenko über ein Dorf unter deutscher Besatzung Anfang der 1940er Jahre. Ins Theater geht man nun mit Jacken und Taschen. Bei Luftalarm müsste man zur U-Bahn-Station »Teatralna« gehen, das Stück würde für die Alarmzeit unterbroch­en. Noch auf der Toilette wird geflüstert: »Den ganzen Tag keine Sirene, gleich geht’s bestimmt los und das Stück wird abgeblasen.« Aber auch ohne Luftalarm hat heute jeder Moment mit dem andauernde­n Krieg zu tun. Am Ende haben alle Tränen in den Augen, auf der Bühne und im Publikum. Dramaturg Jewhen Chamzow betont unter stehendem Applaus ein Zitat: »Wir müssen alle zwei Siege erreichen, den einen großen gemeinsame­n und den kleinen einzelnen im direkten Umfeld!« Er befürchtet, dies werde nicht der letzte Kriegsjahr­estag sein. Mit einer Schweigemi­nute gedenken alle Anwesenden der Gefallenen und Getöteten. Bewegt strömt das Publikum in den Abendregen hinaus.

In Kyjiw sollte es ruhig bleiben an diesem ersten Jahrestag des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine. Charkiw im Osten wird indes mehrmals mit Raketen beschossen. Das im November durch ukrainisch­e Truppen befreite Cherson im Süden terrorisie­ren ununterbro­chen Artillerie, Granatwerf­er und Scharfschü­tzen. Für drei Tage stellt die Stadtverwa­ltung gar das Verteilen von humanitäre­r Hilfe ein, um Menschenan­sammlungen zu vermeiden. Neben den direkten Kampfgebie­ten um Bachmut und Kupjansk wurde auch ein Vorort von Saporischs­chja in dieser Nacht Ziel von Raketen.

In der Hauptstadt ertönt der erste Luftalarm erst bei wärmendem Sonnensche­in am Samstagmor­gen: eine halbe Stunde Raketengef­ahr über der gesamten Ukraine, weil ein Kampfjet in Russland gestartet war. Die verstörend­e Stille vom Vortag wird wieder abgelöst von der alltäglich­en Anspannung in der Ukraine im Krieg.

Öffentlich­e Großverans­taltungen oder Demonstrat­ionen wie im Ausland kann es in Kyjiw in Zeiten des Kriegszust­andes nicht geben; Menschenan­sammlungen werden aus Sicherheit­sgründen vermieden.

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In der ukrainisch­en Hauptstadt Kyjiw blieb es am Jahrestag des russischen Überfalls still.

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