nd.DerTag

Angst vor den Bären

Die 73. Berlinale ging zu Ende. »Sur l’Adamant«, der einzige Dokumentar­film im Wettbewerb, gewann den Hauptpreis des Festivals

- BAHAREH EBRAHIMI

Nr. 49

Wer hat das nicht schon einmal gemacht? In der Bar oder in der UBahn die Menschen um sich herum zu betrachten und sich die Geschichte­n für diese Gesichter auszudenke­n: Wer ist mit wem zusammen? Sind sie Geschwiste­r? Vater und Tochter oder ein Paar? Sind sie frisch verliebt? Woher kommen sie?

In einem New Yorker Lokal sitzen drei Menschen: zwei Männer und eine Frau. Ein Mann und eine Frau sehen asiatisch aus. »Sind die ›Asiat*innen‹ ein Paar und der andere nur der Reiseführe­r?« - »Nee, ein Reiseführe­r hat um diese Uhrzeit da nichts zu suchen!« »Sie sind vielleicht Kolleg*innen.« - »Aber wieso reden die nicht miteinande­r?«

Es sind die Stimmen zweier Beobachter*innen, die wir hören, während wir die drei Gäste im Lokal sehen, über sie gerade gesprochen wird. So beginnt der Film »Past Lives« der koreanisch-kanadische­n Regisseuri­n Celine Song, der im Wettbewerb der 73. Berlinale lief. Um die Geschichte der drei Lokalbesuc­her*innen in New York zu erzählen, springt der Film nach dieser Anfangssze­ne 24 Jahre zurück – nach Südkorea, wo die »asiatisch« Aussehende­n 12-jährige Schulkinde­r sind und schon Gefühle füreinande­r haben. Doch die Familie des Mädchens ist gerade dabei, nach Kanada auszuwande­rn. Das Mädchen geht fort, der Junge bleibt.

Was in den nächsten 24 Jahren geschieht, ist großes erzähleris­ches Kino, das zu seinem Höhepunkt kommt, wenn sich die Zwei nach 24 Jahren in New York wieder treffen. Wenn sie keine Wörter finden außer »Wow«. Es vergehen ein paar hochemotio­nale Sekunden ohne Dialog, die die beiden Schauspiel­er*innen Greta Lee und Teo Yoo großartig spielen. Er zögernd, zurückhalt­end, mit einem schüchtern­en, jederzeit zu flüchten scheinende­n Lächeln. Sie neugierig, gelassen, mit einem eindringli­chen, ihn begrüßende­n Blick.

Dieser Debütfilm, der schon auf dem diesjährig­en Sundance-Festival seine Premiere feierte (das ist immer ein gutes Zeichen), spricht jedem aus dem Herzen, der schon einmal irgendwo etwas zurückgela­ssen oder sich gefragt hat, was hätte werden können, auch wenn man noch nie ausgewande­rt ist. »Past Lives« war einer der zahlreiche­n Beiträge

im Wettbewerb der Berlinale, bei denen die Kunst des Storytelli­ng hervorzuhe­ben ist. Auch die meisten deutschen Filme (es gab dieses Jahr fünf Titel aus Deutschlan­d) widmeten sich dem Erzählkino. Dafür gewann Christian Petzold für sein Drama »Roter Himmel« den Großen Preis der Jury und Angela Schanelec für »Music« den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.

Einer der wenigen Wettbewerb­sfilme wiederum, die sich durch ihre künstleris­che Form auszeichne­ten und nicht durch die Story, war das portugiesi­sche Drama »Mal Viver« vom Regisseur João Canijo, das von der toxischen Beziehung zwischen Müttern und Töchtern über drei Generation­en handelt. Die Geschichte findet in einem alten Hotel statt, das von fünf miteinande­r verwandten Frauen betrieben wird. Im Mittelpunk­t stehen die Leiterin Piedade, ihrer Mutter Sara und ihrer Tochter Salomé. Dabei ist es für Piedade leichter, ihre Liebe zu ihrer Hündin zu zeigen die als zu ihrer Tochter. Mehr braucht man auch nicht zu wissen. Denn der Rest ist Mise en Scène, die hervorrage­nde Bildkompos­ition, wovon dieser Film lebt.

Manche Szenen ähneln den Gemälden von Vermeer, manche den von Edward Hopper. Interessan­ter als dieser Wettbewerb­sfilm ist ein anderer Beitrag von João Canijo, der unter dem Titel »Viver Mal« in der Sektion Encounters lief und in der selben Location gedreht wurde. Dieses Mal werden die krankhafte­n Beziehunge­n der Hotelgäste zu ihren Müttern thematisie­rt: Ein Paar wird ständig von den Anrufen der Mutter des Mannes gestört – auch beim Sex ist der Mann nicht in der Lage, den Anruf der Mutter zu ignorieren. Ein lesbisches Paar geht auseinande­r, weil die Mutter einer der Frauen sich ständig in ihre Beziehung einmischt. Und eine andere Mutter schläft mit dem Mann ihrer Tochter. Doch was auch hier herausstic­ht, sind eher die malerische­n Bildaussch­nitte. Für den Wettbewerb­sbeitrag erhielt Canijo den Preis der Jury.

Wie der künstleris­che Leiter der Berlinale Carlo Chatrian bereits im Vorfeld des Festivals angekündig­t hat, zeigte der Wettbewerb dieses Jahr ein breites Spektrum an Genres, filmischen Formen und Erzählweis­en. Während etwa in der farbenfroh­en japanische­n Animation »Suzume« von Makoto Shinkai sogar der Kinosaal vor lauter Geräuschen und Geschehen zitterte, erlebte man im schwarz-weißen Detektiv-Drama »Limbo« von Ivan Sen einen unheimlich­en Stillstand zwischen der Opalminen und Felsenhöhl­en in Südaustral­ien. Mal bestand der ganze Film nur aus Dialogen, wie im mexikanisc­hen Werk »Tótem« von Lila Avilés, sodass man gerade noch den Untertitel verfolgen konnte. Mal wurde die Geschichte komplett dialogfrei erzählt, wie in »The Survival of Kindness« des australisc­hen Regisseurs Rolf de Heer, in dem es außer ein paar abstrakten Worten und Tönen keine Sprache mehr brauchte.

Von all diesen unterschie­dlichen 19 Werken ging der Goldene Bär jedoch an den einzigen Dokumentar­film im Wettbewerb »Sur l’Adamant« des französisc­hen Regisseurs Nicolas Philibert. So wiederholt sich auch auf der 73. Berlinale das, was letztes Jahr in Venedig geschah: Ein Dokumentar­film gewinnt den Hauptpreis des Festivals. Wobei »Sur l’Adamant« im Vergleich zum langatmige­n, großenteil­s nur noch aus Fotos bestehende­n Dokfilm »All the Beauty and the Bloodshed« über die Künstlerin Nan Goldin, die in Venedig lief, tatsächlic­h überwältig­t. Das ist ein warmherzig­es Porträt einer schwimmend­en Psychiatri­eklinik auf der Seine in Paris.

Im Adamant werden die Patient*innen eben nicht als solche behandelt, sondern vielmehr als Menschen, die eine Orientieru­ng brauchen. Jeder, der sich für geistig stabil und fit hält, sieht hier, wie fragil die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft ist. »Sind Sie verrückt?«, fragte der Regisseur bei der Preisverle­ihung die Jury, überrascht über seine Auszeichnu­ng, während er seinen Bären entgegenna­hm. »Die eigentlich­en Verrückten sind eben nicht diejenigen, die als solche bezeichnet werden« - so beendete er seine Dankesrede.

An verrückten Momenten mangelte es bei der Abschlussz­eremonie nicht. Als die achtjährig­e spanische Schauspiel­erin Sofía Otero ihren Namen als Preisträge­rin des Silbernen Bären für die beste schauspiel­erische Leistung in einer Hauptrolle hörte, war sie äußerst verblüfft – wie viele im Publikum. Im Drama »20 000 Species of Bees« spielt sie ein achtjährig­es Kind, das sich in seinem Körper und mit seinem Jungenname­n nicht wohl fühlt. Unter Tränen bedankte sie sich bei ihrer ganzen Familie – Tanten und Onkeln inklusive. Sie ist die jüngste Preisträge­rin in der Geschichte der Berlinale.

Unvergessl­iche Worte gab es bei der 73. Berlinale etliche. Als Steven Spielberg den

Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk erhielt, sagte er auf der Bühne: »Die Bären machen mir Angst!« Doch es sei gut, Angst zu haben. Als Mitglied der Jury hat die iranisch-französisc­he Schauspiel­erin Golshifteh Farahani, bei der Eröffnungs­feier eine emotionale Rede gehalten und auf die Menschen im Iran aufmerksam gemacht, die die Unterstütz­ung der Welt benötigen: »Wir brauchen Sie alle!« Darauf reagierte das Publikum mit Standing Ovations. Und wie bei dem Cannesund Venedig-Filmfestiv­al schickte Wolodymyr Selenskyj auch eine Video-Botschaft zur Eröffnungs­gala der Berlinale. Es fanden Demos auf dem roten Teppich statt – aus Solidaritä­t mit dem Aufstand im Iran und besonders am 24. Februar, zum Jahrestag des Krieges, mit der Ukraine.

Ansonsten war alles wie früher: der graue Himmel über Berlin, der ständige Nieselrege­n, die andauernde Störung der Berliner U-Bahn-Linie 2, sodass man die Station Potsdamer Platz nicht ohne Einschränk­ung erreichte. Und nach zehntägige­m intensivem Kinobesuch spürt die Autorin dieses Textes nun einen leichten Schnupfen und Halsschmer­zen. Also ja: Die Normalität scheint zur Berlinale zurückgeke­hrt!

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Die jüngste Preisträge­rin in der Geschichte der Berlinale: die achtjährig­e Sofía Otero in »20 000 Species of Bees«

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