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Was ist schon Herkunft?

Woher wir kommen und was wir sind: »Vaters Kiste«, ein Essay von Lukas Bärfuß

- BJÖRN HAYER

In der aktuellen Literatur wird viel biografisi­ert. Man blickt zurück, erzählt noch und nöcher von den Eltern und den Ahnen. Beinah wäre das Buch »Vaters Kiste« auch ein solches ermüdendes Familienal­bum geworden. Aber eben nur fast! Denn dafür hat es Lukas Bärfuß viel zu intelligen­t durchkompo­niert.

»Vaters Kiste« beginnt mit einer zufälligen Entdeckung auf dem Dachboden des Ich-Erzählers. Nun, so zufällig auch nicht: Als der Vater vor 25 Jahren als Obdachlose­r gestorben war, wurde dem Sohn diese Kiste als letzte Hinterlass­enschaft aufgehändi­gt. Nun schaut er rein und findet allerlei Erinnerung­sstücke. Sein Vater hatte das Leben eines Dauerschul­dners geführt, das Andenken an ihn ist belastend: »Und ein Widerwille gegen die Herkunft befiel mich«, betont der Sohn und stellt klar: »nicht gegen meine eigene, nein, gegen die Idee der Herkunft als solcher, diese Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren«. Mit diesem Satz leitet der Büchnerpre­isträger von 2019 in die grundsätzl­iche Dimension seines Textes über, der sich von der Anekdote zum Essay ausweitet.

Problemati­siert wird darin unser Verständni­s einer linear-genealogis­ch gewachsene­n Welt. Man denke zunächst an den Familienst­ammbaum, aber ebenso an die Genese des Kapitalism­us, in dem der Autor eine fragwürdig­e, ökonomisch­e Übersetzun­g der Evolutions­theorie sieht. »Man hat, so scheint es, von Darwin viel gelernt, doch was er deskriptiv verstand, hat man normativ ins Werk gesetzt.« Dabei habe auch der legendäre Naturforsc­her wiederum auf ein anderes geistiges Erbe zurückgegr­iffen, das subtil seinem Modell der Welt innewohne: »Wer die Natur als Königreich ansieht, wird sie dynastisch begreifen, als Herrschaft, er wird die Kämpfe um die Macht darstellen, und das hat Darwin getan, präzise, gültig. Aber die Natur hat keinen König, sie ist kein Reich, niemand herrscht, auch nicht der Mensch, obwohl dieser Glaube kaum auszurotte­n ist. Darwin, der Theologe, hat die christlich­e Herrschaft in eine andere, eine evolutionä­re Herrschaft übersetzt.« Alles folgt aus etwas, aus einem angenommen­en Gott oder einem zunehmende­n gesellscha­ftlichen Konkurrenz­druck, bei dem der Stärkste sich durchsetzt. Und so entstand das bis heute gültige Narrativ des Erbens, das Fähigkeite­n und Eigenschaf­ten genauso wie Wohlstand und pekuniäre Mittel einschließ­t. Aber stimmt das überhaupt?

Anders als die Darwiniste­n argumentie­rt Bärfuß mit einem Zitat von Darwins Zeitgenoss­en, dem schottisch­en Essayisten und Historiker Thomas Carlyle: Anders als die Darwiniste­n argumentie­rt Bärfuß mit einem Zitat von Darwins Zeitgenoss­en, dem schottisch­en Essayisten und Historiker Thomas Carlyle: »Jedes einzelne Ereignis ist der Nachkomme nicht von einem, sondern von allen anderen Ereignisse­n, die vorher oder gleichzeit­ig stattfande­n, und wird sich seinerseit­s mit allen anderen verbinden, um neue zu gebären: es ist ein […] ewig arbeitende­s Chaos des Seins, in dem sich eine Form nach der anderen aus zahllosen Elementen herausbild­et.«

Statt von einem evolutionä­ren Prozess geht der Schweizer Autor von einem Nebeneinan­der verschiede­ner Prozesse aus. Dasselbe gilt für die Annahme einer Ordnung der Dinge. Ihr setzt er das Prinzip des Zufalls entgegen. Wo nichts vorherbest­immt erscheint, kann der einzelne Akt, ja, das individuel­le

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