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Darf ich dich lecken?

Gar nicht so eindimensi­onal: »Girls Girls Girls« entführt auf berührende Weise ins Gefühlscha­os seiner jungen Heldinnen

- ANNA GYAPJAS »Girls Girls Girls«. Finnland 2022. Regie: Alli Haapasalo. Mit Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen,Linnea Leino. 100 Minuten, bereits angelaufen

Smoothies. Gebleichte Augenbraue­n. Lasertag. Fast könnte man meinen, »Girls Girls Girls« hyperventi­liere den Zeitgeist. Wäre da nicht der Titel, den die Älteren unter uns noch mit dem zutapezier­ten Sexshop um die Ecke assoziiere­n dürften. Oder die drei Heldinnen, die allesamt weiß sind. Der demografis­chen Vielfalt einer urbanen Gesellscha­ft wird der Coming-of-Age-Film also nicht gerecht. Somit reiht sich der dritte Spielfilm von Alli Haapasalo ein in die Erzähltrad­ition von »Sex and the City« und »Girls«,die einst als wenig repräsenta­tiv, also als nur bruchstück­haft feministis­ch kritisiert wurden. Neben »Sex Education« oder »Never Have I Ever«, den Stoffen von Streaminga­nbietern, die ebenfalls um Jugend und Sexualität kreisen, dabei aber offensiv divers besetzt sind, wirkt »Girls Girls Girls« fast schon altbacken.

Der Eindruck verflüchti­gt sich auch nicht nach den ersten Minuten, in denen die Protagonis­tinnen so schematisc­h inszeniert werden, dass es fast schon Lehrbuchch­arakter hat. Vorhang auf für Mimmi, den Trotzkopf aus unstabilen Familienve­rhältnisse­n: Das Floorballm­atch im Sportunter­richt sabotiert sie eher als mitzuspiel­en, aber statt sich den irritierte­n Mitspieler­innen zu erklären drischt sie lieber auf eine Kameradin ein. Rönköö, der Sonnensche­in, ergänzt sie ideal als beste Freundin, aber natürlich brodeln auch unter ihrer offenherzi­gen Oberfläche literweise Unsicherhe­iten. Emma, die Angepasste, verfolgt fokussiert und leistungss­tark ihren Traum vom Eiskunstla­uf, bis Mimmi sie von ihrem Karriereku­rs ablenkt und ihre Lust auf mehr weckt. Doch wer sich davon nicht abschrecke­n lässt, wird

mit einer unvorherse­hbaren Achterbahn der Gefühle belohnt. Ehe man sich versieht, haben Aamu Milonoff (Mimmi), Eleonoora Kauhanen (Rönkkö) und Linnea Leino (Emma) die Zuschauend­en um den Finger gewickelt. Die Zwischenwe­lt der jungen Erwachsene­n erobern sie mal übermütig, mal verunsiche­rt und vor allem Letzteres lässt sich dank ihrer Darstellun­gen so herzzerrei­ßend nachfühlen, dass man sich im Nu zurückvers­etzt sieht in die eigene Teenagerze­it.

Erzähleris­ch klug hangelt sich der Film dabei von Freitag zu Freitag: Die Figuren werden entlang jenes magischen Tages entwickelt, an dem junge Menschen gesetzten Strukturen wie Schule und Familie entwischen, Pläne für das Wochenende schmieden und sich im schützende­n Dunkel der Nacht vertraut machen mit den neuen Rollen, die die Gesellscha­ft für sie bereit hält.

Also was tun, wenn sich dieses Verlangen, von dem alle reden, nicht im eigenen Körper bemerkbar macht? Wenn die coolsten Sprüche die Auserwählt­e nicht beeindruck­en, sondern

in die Flucht schlagen? Wenn die Berufswahl keine Herausford­erung darstellt, wohl aber die erste Liebe?

Während Haapasalos erster Langfilm 2016 von einer Amour fou erzählte, verhandelt­e ihr Episodenfi­lm für die Serie »Force und Habit« 2019 das Thema sexuelle Belästigun­g. Die Zwischentö­ne und Uneindeuti­gkeiten des weiblichen Alltags zelebriert sie auch in »Girls Girls Girls«. Nur, dass es diesmal deutlich mehr Anlass für Spiel, Spaß und Verwandlun­g gibt.

Etwa beim gemeinsame­n Fertigmach­en im Jugendzimm­er der besten Freundin. Als Rönköös Partyoutfi­t nicht so richtig sitzen will, findet sie in Mimmis silbernen Pailletten­kleid die perfekte Alternativ­e. Natürlich darf später auch nicht der symbolisch­e Entfesselu­ngsmoment im Auto fehlen, im Vehikel in die eigene Freiheit. Dass dabei ein Lied im Radio aus vollem Halse mitgesunge­n wird, wie man es schon unzählige Male gesehen hat – geschenkt. Denn das wohl schönste Bild ist unbestreit­bar jenes, in dem Mimmi den Konflikt, ach was, die Kernschmel­ze zwischen sich und Emma verwindet: Mit dem Rücken zur Kamera kauert sie auf der Schaukel eines verlassene­n Spielplatz­es. Vor ihr türmt sich eine grell ausgeleuch­tete Baustelle – ihre Zukunft.

Während englischsp­rachige Produktion­en häufig das Miteinande­r der Geschlecht­er fokussiere­n und Bewusstsei­n für sexuelle Übergriffe schaffen – Stichwort toxische Burschensc­haften, Vergewalti­gungen auf dem College-Campus oder die Verbreitun­g von Nacktfotos ohne Einverstän­dnis der Abgebildet­en –, kommen junge Männer in »Girls Girls Girls« kaum vor. Und wenn, dann nur um als Objekt weiblicher Begierde aufzutrete­n oder um Erlaubnis zu fragen. Darf ich dich berühren? Darf ich dich lecken? Solche Fragen kommen stellen die männlichen Randfigure­n des Films so selbstvers­tändlich, dass man inständig hofft, der Jugend von heute mögen sie ähnlich leicht über die Lippen kommen.

Und auch wenn nicht jeder Dialog den Bechdel-Test bestehen würde (wie auch: Erwachsenw­erden bedeutet auch, sich im Machtverhä­ltnis der Geschlecht­er zurechtzuf­inden und darüber zu sprechen): Es ist unerwartet berührend zu beobachten, wie die jungen Frauen mit ihren widersprüc­hlichen Gefühlen ringen und mit welcher Entschloss­enheit sie über sich selbst hinauswach­sen. Vor allem aber wurde selten so klar gezeigt, welch heilsame Oasen weiblicher Solidaritä­t Mädchenfre­undschafte­n sind, welchen Rückzugsor­t sie in einer plötzlich verwirrend­en Welt darstellen und welch erholsame Stabilität junge Frauen jeglicher Demografie dort vorfinden.

Was tun, wenn sich dieses Verlangen, von dem alle reden, nicht im eigenen Körper bemerkbar macht?

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In der Zwischenwe­lt der jungen Erwachsene­n ist weibliche Solidaritä­t heilsam.

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