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Nationalis­mus ist keine Lösung

Rückzug vor der Krise ins nationale Schneckenh­aus? Ein Blick auf die Krise der tschechisc­hen Linken

- JIŘÍ DOLEJŠ

Die tschechisc­hen Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n waren bis vor sechs Jahren echte Machtfakto­ren. Dann stürzten sie in kurzer Zeit dramatisch ab – bis in die politische Bedeutungs­losigkeit.

Die politische Linke gibt es in verschiede­nen historisch­en Ausprägung­en seit über zwei Jahrhunder­ten. Immer war es ihr Wesen, die Interessen der Unterprivi­legierten zu artikulier­en und die Werte des universell­en Humanismus durch sozialen Fortschrit­t zu heben. Die Linke hat sich immer dann degenerati­v verändert, wenn sie statt eines rationalen Projekts für eine bessere Welt nur eine Mischung aus sozialem Hass und Autoritari­smus angeboten hat. Einen besonderen Platz in der Krise der Linken nimmt die historisch­e Niederlage des Sozialismu­sversuchs auf der Grundlage der Russischen Revolution von 1917 ein.

In der Krise kann sich die Linke in Nostalgie nach utopischen Traditione­n und Moralismen flüchten. Anders als die Religion ist die Politik jedoch die Kunst des Möglichen und ihre Praxis braucht heuristisc­he Inhalte. Daher kann nur die Modernisie­rung dieses rationalen Projekts der politische­n Linken einen Nutzen als politische Dienstleis­tung für die linke Klientel bringen. Eine ausbleiben­de Modernisie­rung führt zwangsläuf­ig zu einer weiteren Degenerati­on. Ein Impuls für die Modernisie­rung war in Tschechien sowohl das Jahr 1968 als auch das Jahr 1989. Diese Impulse verlängert­en objektiv unsere Lebensspan­ne, aber leider sind sie wieder in Stagnation umgeschlag­en.

Die Krise der politische­n Linken zeigt sich heute in der Schwächung, ja sogar im Verlust ihrer parlamenta­rischen Vertretung in Tschechien. Das Jahr 1989 brachte die Degenerati­on der kommunisti­schen Linken ans Licht, aber es stellte auch die reformisti­sche Linke vor schwierige Herausford­erungen. Leider war das Verhältnis zwischen der radikalen und der reformisti­schen Linken durch ein historisch­es Schisma belastet. Letztendli­ch hat die tschechisc­he Linke das Jahr 1989 nicht genutzt, um wieder aufzuerste­hen. Bei den ersten freien Wahlen in den Übergangss­ystemen des ehemaligen Sowjetbloc­ks ging es mehr um einen Bruch mit der Vergangenh­eit als um ein Rechts-links-Duell. Und obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerun­g zu den Werten der Solidaritä­t und der sozialen Sicherheit bekennt, sind deren Garanten nach und nach nicht mehr die traditione­llen Parteien (die Kommuniste­n und die Sozialdemo­kraten).

Nach einer Phase der enthusiast­ischen Transforma­tion folgte Ende der 1990er Jahre eine logische Phase der Desillusio­nierung, die auch eine neue Chance für die politische Linke brachte. Bei den Wahlen 2002 in der Tschechisc­hen Republik erreichten die sozialdemo­kratische ČSSD und die kommunisti­sche KSČM zusammen eine Mehrheit der Sitze im Parlament. Gleichzeit­ig blockierte­n jedoch gegenseiti­ge Animosität­en die Einigung der linken Parteien. Die Vorsitzend­en der Parteien, Vladimir Špidla und Miroslav Grebeníček, konnten keinen Weg zueinander finden. Trotz der Dominanz sozialer Werte ist die Gesellscha­ft auch mehrheitli­ch prokapital­istisch. Dem entspricht die Art der Proteststi­mmungen. Die linke Mehrheit wurde nur bei einigen Abstimmung­en am Ende der Wahlperiod­e genutzt. Der Anteil der Sitze der Linken im tschechisc­hen Parlament begann dann allmählich zu sinken. Im Jahr 2017 waren es nur noch 15 Prozent, und bei den Wahlen 2021 ist die Linke ganz aus dem tschechisc­hen Parlament ausgeschie­den.

Diese Situation führte zu einer Abwehrhalt­ung, bei der sich die Überbleibs­el der alten Linken in ihrer Umzingelun­g zusammenku­schelten, um sich in ihrem Ghetto mit ideologisc­hen Ritualen zu trösten. Die Niederlage führte auch zu Skepsis gegenüber der mobilisier­enden Rolle linker Werte, die einige mit nationalem Identitäts­wahn und mit einem Widerstand gegen die bedrohende­n Zivilisati­onsneuheit­en ersetzten. Die Konservati­ven lebten auf, und die Umwandlung von Proteststi­mmen in programmat­ische Stimmen begann die Unterstütz­ung der praktische­n Modernisie­rungsbemüh­ungen zu verlieren. Es zeigt sich auch, dass unter dem Druck der objektiven Globalisie­rung der Zivilisati­on die Tendenz zum Rückzug in ein nationales Schneckenh­aus zunimmt, insbesonde­re in den Reihen der alternden Linken. Kulturelle­r Progressiv­ismus oder Neomarxism­us ist unter Dogmatiker­n und Nationalis­ten im Grunde genommen zu einem Schimpfwor­t geworden. Was die Sozialdemo­kraten anbelangt, so verlor ihre Politik des Wohlfahrts­staates an Wirksamkei­t und Attraktivi­tät. Die Politik der kleinen sozialen Zugeständn­isse lernten sie auch von den Populisten, und der Linken begann ein neues Projekt zu fehlen.

Es kann irritieren, dass Proteststi­mmen oft zum Rechtsextr­emismus tendieren und dass die Klientel der Linken, vor allem in Osteuropa, zu alt ist und daher konservati­v. Aber es ist ein Widerspruc­h in sich, jeglichen Fortschrit­t oder Avantgarde aus konservati­ven Prämissen und durch die Rückkehr zu überholten Traditione­n organisier­en zu wollen. Die politische Linke von heute wird nicht durch eine Mischung aus Nostalgie für das vergangene Regime und nationalis­tischem Identitari­smus wiederbele­bt werden. Es ist also bizarr, wenn die Traditiona­listen lieber die liberale Linke als den Kapitalism­us bekämpfen. Die fortschrit­tliche oder kulturelle Linke ist nicht der Satan, der aus der Linken ausgetrieb­en werden sollte. Außerdem fühlten sich die liberalere­n jüngeren Wähler zunächst mehr zu den Grünen hingezogen und nach deren Diskrediti­erung und Ausscheide­n aus dem Parlament zu den Piraten (Tschechisc­he Piratenpar­tei – liberal-progressiv orientiert). Der konservati­ve Kurs der Linken hat begonnen, sie völlig von der jüngeren Generation abzukoppel­n. Trotzdem hat sich der Streit über diesen Kurs fortgesetz­t und unter dem Einfluss der Ereignisse in der Ukraine und dem geopolitis­chen Druck Russlands noch verschärft.

Für die Zukunft der Linken ist diese Frage von entscheide­nder Bedeutung. Eine gewisse Analogie für diese Situation bietet schon der alte Text des Manifests von 1848, in dem die Klassiker reaktionär­e Tendenzen als paternalis­tischen oder konservati­ven Sozialismu­s beschreibe­n. Darin besprenkel­n bigotte Ewiggestri­ge den sozialen Fortschrit­t mit Weihwasser und impfen den Armen den nationalen Egoismus ein. Auch heute halten manche den Progressiv­ismus für eine elitäre Verirrung und scheuen sich nicht, alte Tabus zu rehabiliti­eren. Sie sehen im Populismus eine Garantie für das Plebejertu­m. Da die Unsicherhe­it unter den Menschen zunimmt, bedienen sie sich irrational­er Instinkte, einschließ­lich Fremdenfei­ndlichkeit gegenüber Menschen, die anders sind. Leider öffnet sich heute auch innerhalb der Linken die Kluft zwischen den so genannten »slunickari« (analog zum deutschen »Gutmensche­n«) und den Fremdenhas­sern.

Dieses Problem betrifft sowohl die reformisti­sche als auch die radikale Linke. Sie hat auch eine internatio­nale Dimension, da sie in verschiede­nen europäisch­en Ländern auftritt. In der Tschechisc­hen Republik verlassen einige Sozialdemo­kraten die Partei und schließen sich der fremdenfei­ndlichen Gruppe Freiheit und direkte Demokratie an (eine Partei des nationalen Populismus). In der Slowakei ist Robert Ficos Teil der dem Namen nach sozialdemo­kratischen SmerBewegu­ng dabei, sich zu »mečiarisie­ren«. Einige von ihnen schämen sich nicht, sich auf dem Marktplatz mit den Kotleba-Extremiste­n zu treffen (Vladimir Mečiar war bis 1998 slowakisch­er Premiermin­ister und Vorsitzend­er der populistis­chen HZDS-Bewegung. Marian Kotleba ist ein rechtsextr­emer slowakisch­er Politiker, der wegen extremisti­scher Reden seinen Sitz im Parlament verloren hat, Robert Fico, langjährig­er slowakisch­er Premiermin­ister, steht einer Bewegung vor, die sich selbst als sozialdemo­kratisch bezeichnet).

Der Begriff konservati­ve Linke ist ein Oxymoron. Die soziale Gerechtigk­eit wird nicht durch nationale Autorität geschützt, und die Aversion gegen den Universali­smus der Menschenre­chte ist absurd. Solidaritä­t ist keine Wohltätigk­eit und kann nicht auf traditione­lle Gemeinscha­ften und historisch­e Gebilde reduziert werden. Die Mobilisier­ung der Protestwäh­ler ist taktisch verständli­ch, aber sie darf nicht auf Kosten der programmat­ischen Identität gehen. Die extreme Rechte ist einfach ideologisc­h toxisch. Die Anpassung an hasserfüll­te Fremdenfei­ndlichkeit, die Entschuldi­gung des Imperialis­mus und Kolonialis­mus, wenn er nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten kommt, Fortschrit­tsfeindlic­hkeit und kulturelle Intoleranz – all das ist unvereinba­r mit den Werten der Linken und verstärkt nur das Misstrauen und provoziert Spaltungsp­rozesse.

Letztendli­ch ist die mobilisier­ende Wirkung von patriotisc­hen Möchtegern-Projekten, die tschechisc­he Linke mit der äußersten Rechten verbinden, nur virtuell und bringt mehr Schaden als Nutzen. Die widersprüc­hlichen Motive des Protests führen schließlic­h zur Spaltung, wie die Entwicklun­gen in der nationalpo­pulistisch­en Bewegung »CČR na 1. Místě« (Tschechien zuerst) zeigen. Diese Freunde des Volkes haben ziemlich braune

Eingeweide. Deshalb ist es so wichtig, sie nicht mit denjenigen zu verwechsel­n, die nur auf das Establishm­ent wütend sind, den Anhängern der radikalen Demokratie.

Der Verrat an den grundlegen­den Wertvorste­llungen durch ein Bündnis mit toxischen Figuren der ultrarecht­en Szene würde die unumgängli­che Zusammenar­beit der tatsächlic­hen Linken blockieren. Die Vorstellun­g, dass der Sozialist Jean-Luc Melenchon in Frankreich der Rechtsextr­emen Marine Le Pen die Hand reicht, um die verhassten Zentrumsli­beralen in die Zange zu nehmen, ist wahnsinnig. Traditiona­listen auf der Linken mögen zu Recht auf die Notwendigk­eit einer Hierarchie der Themen hinweisen. In der Tat sind einige kulturelle Themen für die soziale Basis der Linken schwierige­r zu verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass die kulturelle Linke mit faschistoi­den Gruppierun­gen verraten werden muss. Erleuchtet­e Autoritari­sten und Massenhypn­otiseure sind nicht der richtige Weg, um die Linke aufzuwecke­n.

Die Krise der Linken erfordert eine stärkere Betonung der Synergie von wirklich linken Kräften. Die Fähigkeit, miteinande­r zu kommunizie­ren und Debatten zu moderieren, wird entscheide­nd sein. Ob sich die Linke für ein lockereres Bündnismod­ell oder eine engere institutio­nelle Zusammenar­beit entscheide­t, hängt von den lokalen Bedingunge­n ab. Es gibt die Erfahrung der polnischen Linken, ebenso wie die der portugiesi­schen oder spanischen Linken. Wenn dies gelingt, kann die plebejisch­e Basis mit dem kreativen und emanzipato­rischen Potenzial der Avantgarde verbunden werden. Vor allem die neue Generation muss dann den Fuß in die sich schließend­e Tür zur linken Zukunft stellen. Es ist unwahrsche­inlich, dass die alte Linke neue Impulse bringen wird. Wenn sie verantwort­ungsbewuss­t ist, wird sie in der Lage sein, ihre Erfahrunge­n weiterzuge­ben und den linken Millennial­s und der aufkommend­en Generation Z mehr Raum zu geben.

Es ist ein Widerspruc­h, jeglichen Fortschrit­t aus konservati­ven Prämissen und durch die Rückkehr zu überholten Traditione­n organisier­en zu wollen.

Erleuchtet­e Autoritari­sten und Massenhypn­otiseure sind nicht der richtige Weg, um die Linke aufzuwecke­n.

 ?? ?? Jiří Dolejš, Jahrgang 1961, ist Wirtschaft­swissensch­aftler und Politiker. Er war von 2002 bis 2021 Abgeordnet­er der Kommunisti­schen Partei der Tschechosl­owakei im Abgeordnet­enhaus des tschechisc­hen Parlaments.
Jiří Dolejš, Jahrgang 1961, ist Wirtschaft­swissensch­aftler und Politiker. Er war von 2002 bis 2021 Abgeordnet­er der Kommunisti­schen Partei der Tschechosl­owakei im Abgeordnet­enhaus des tschechisc­hen Parlaments.
 ?? ?? Eine Stimme auf der Straße, aber nicht mehr im Parlament: Tschechisc­he Kommuniste­n protestier­en 2022 gegen die rechte Regierung in Prag.
Eine Stimme auf der Straße, aber nicht mehr im Parlament: Tschechisc­he Kommuniste­n protestier­en 2022 gegen die rechte Regierung in Prag.

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