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»Der letzte Zeuge der Repression«

Said Salhi über die Auflösung der größten Menschenre­chtsorgani­sation LADDH in Algerien

- ELISA RHEINHEIME­R

Herr Salhi, im Februar 2019 gingen landesweit Hunderttau­sende Algerierin­nen und Algerier auf die Straßen, um gegen Langzeithe­rrscher Abdelaziz Bouteflika zu demonstrie­ren und für politische­n Wandel. Wie steht es heute, vier Jahre nach der Revolution, um die Menschenre­chte?

Leider sehr schlecht. Wir beobachten ein Kräftemess­en zwischen der pro-demokratis­chen Revolution­sbewegung Hirak, die auch seit dem Amtsantrit­t von Präsident Abdelmadji­d Tebboune im Jahr 2019 weiterhin friedlich Widerstand leistete, und einem Regime, dessen Ziel es ist, den Hirak endgültig loszuwerde­n. Die Repression­en nehmen zu. Das Regime des »neuen Algerien« hat sich als schlimmer erwiesen als das Bouteflika-Regime, das wir bekämpft haben. Während der 20-jährigen Herrschaft von Bouteflika wurde keine einzige Vereinigun­g oder politische Partei aufgelöst. Und jetzt? Nach der Schließung des letzten Medienraum­s mit freier Meinungsäu­ßerung, Radio Maghreb und Maghreb Émergent, und der Inhaftieru­ng seines Chefredakt­eurs, des Journalist­en Ihsan El-Kadi, beschloss die Staatsmach­t, sich aller Zeugen zu entledigen.

Wen meinen Sie?

Die algerische Menschenre­chtsliga LADDH. Sie ist mit ihren 38 Jahren Existenz der letzte Zeuge der Repression. Durch seine Erklärunge­n und seine Aufdeckung­sarbeit störte dieser Zeuge vor allem auf internatio­naler Ebene, auf der die Staatsmach­t das Bild eines neuen Algeriens verkaufen und die Repression verbergen will. Erst vor wenigen Wochen haben wir erfahren, dass unsere Organisati­on schon im Juni 2022 aufgelöst worden war, wir aber nicht darüber informiert wurden. Auch das entspreche­nde Urteil wurde uns nie zugestellt.

Was bedeutet die Auflösung der LADDH für Algerien?

Menschenre­chtsvertei­diger sind von nun an unerwünsch­t. Was unserer Organisati­on vorgeworfe­n wird, ist ihre Arbeit: Die Tatsache, dass sie innerhalb des Landes und auf internatio­naler Ebene die Verschlech­terung der Menschenre­chte in Algerien sichtbar machte. Die Tatsache, dass sie die Stimme derjenigen ist, die mundtot gemacht werden. Mit der Auflösung der LADDH wird deutlich: Algerien verstößt gegen seine internatio­nalen Menschenre­chtsverpfl­ichtungen. Das Regime hat entschiede­n, sich auf die Seite der Unrechtsst­aaten zu stellen. Algerien fällt im weltweiten Ranking weiter ab und reiht sich ein in die Riege der Diktaturen und Staaten, die die Menschenre­chte missachten. Es ist eine Schande für die Regierung.

Gibt es noch unabhängig­e Menschenre­chtsorgani­sationen in Algerien?

Leider nein. Die Machthaber haben eine völlig untergeord­nete Beobachtun­gsstelle für die Zivilgesel­lschaft eingericht­et, aber die hat de facto den Auftrag, das Image des Regimes zu fördern. Die LADDH war die älteste und wichtigste Menschenre­chtsorgani­sation in Algerien, die einzige wirklich autonome Organisati­on, der letzte Raum für die Dokumentat­ion und Überwachun­g der Menschenre­chte. Ihre Auflösung ist eine schlechte Nachricht für alle Organisati­onen der Zivilgesel­lschaft. In Algerien leisten Aktivistin­nen und Verteidige­r noch immer mutig Widerstand, zum Preis willkürlic­her Inhaftieru­ngen und aller Arten von Schikanen.

Wie steht es denn um die Unabhängig­keit der algerische­n Justiz?

Ich habe selbst jahrelang bei der LADDH an Projekten zur Reform des Justiz- und Strafvollz­ugwesens gearbeitet, um die Kooperatio­nen des algerische­n Justizmini­steriums mit der Europäisch­en Union und dem Entwicklun­gsprogramm der Vereinten Nationen zu unterstütz­en. Diese Programme laufen seit 2006 und zielen ab auf die Reform und Modernisie­rung des Justizwese­ns hin zu einer gerechten und unabhängig­en Justiz. Es ist schmerzhaf­t, nun festzustel­len, dass die Justiz trotz aller Bemühungen, Richter und Staatsanwä­lte zu stärken, weiterhin nicht unabhängig ist. Das Justizwese­n ist immer noch der Exekutive und der tatsächlic­hen Macht im Land – der Armee – unterworfe­n. Mein Land rutscht von Tag zu Tag tiefer in eine Diktatur ab und ein Frühling ist nicht in Sicht. Das Regime bereitet schon seine Nachfolge im Jahr 2024 vor.

Sie leben seit Sommer 2022 im Exil in Belgien. Wie geht es Ihnen damit?

Das Exil ist nie eine freie Wahl. Man entscheide­t sich nicht aus einer Laune heraus, mit den Seinen zu brechen und das Land, für das man gekämpft hat, hinter sich zu lassen. Ins Exil zu gehen mit der Gewissheit, nicht nach Hause zurückkehr­en zu können, ist für mich der schwierigs­te Moment meines Lebens gewesen. Heute verfolge ich aus der Ferne, wie die Organisati­on, in der ich mich 18 Jahre lang engagiert habe, zerstört wird. Am schlimmste­n ist es für mich, zuzusehen, wie das Menschenre­chtszentru­m in Bejaia, das ich selbst eröffnet habe, nun geschlosse­n und versiegelt ist, dass Organisati­onen und Hunderte von jungen Menschen dieses Raums der Bildung, der freien Debatte und der Begegnung beraubt werden, dass ein ganzes Werk vor meinen Augen zusammenbr­icht.

Viele Demokratie-Aktivisten, Anwältinne­n und Journalist­en verlassen derzeit das Land ...

… ja, diejenigen, die es noch schaffen. Einige unserer Aktivisten wurden vorgeladen, ihnen wurde mitgeteilt, dass sie das Land nicht verlassen dürfen, ihre Pässe wurden eingezogen.

Die LADDH hat sich aktiv an der Protestbew­egung Hirak beteiligt mit der Hoffnung auf einen Systemwech­sel. Die Proteste jähren sich nun zum vierten Mal. Was ist von der Revolution geblieben?

Die friedliche, pro-demokratis­che Protestbew­egung Hirak bleibt unbestreit­bar ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Sie ist eine historisch­e Chance für einen demokratis­chen Wandel, auch wenn dieser aus verschiede­nen Gründen bislang verpasst wurde. Dennoch hat der Hirak das algerische Volk befreit, vor allem die Jugend. Es gibt eine ganze Generation von jungen Aktivisten, die heute der Unterdrück­ungsmaschi­nerie des Regimes gegenübers­tehen. Die Machthaber glauben, dass sie das Volk mit Gewalt und Zwang unterworfe­n haben, aber sie irren sich. Am 22. Februar haben wir trotz allem den vierten Jahrestag des Hirak gefeiert, wenn auch nicht protestier­end auf den Straßen, weil die Bewegung nicht auf Kollisions­kurs mit der Armee aus ist. Die Menschen wollen keine Wiederholu­ng des Bürgerkrie­gs der 90er Jahre. Aber sie werden ihren friedliche­n Widerstand fortsetzen.

 ?? ?? Angehörige der algerische­n Diaspora machen im Mai 2022 in Montreal (Kanada) auf das Schicksal während der Revolution 2019 verschlepp­ter Algerier aufmerksam.
Angehörige der algerische­n Diaspora machen im Mai 2022 in Montreal (Kanada) auf das Schicksal während der Revolution 2019 verschlepp­ter Algerier aufmerksam.

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