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SPASS UND VERANTWORT­UNG Die beseelte Stadt

- OLGA HOHMANN

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufi­nden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Auf einer Party in einem Billardcen­ter höre ich eine Geschichte, die mich beschäftig­t:

Eine Frau geht in ein Geschäft auf der Potsdamer Straße, es heißt »Ave Maria«. Es ist direkt neben der berühmten »Joseph Roth Diele«. Ein Devotional­ienladen für christlich­e Kultartike­l, Artefakte, die kleinsten so groß wie ein Centstück, die größten fast lebensgroß. Ikonen verschiede­ner Funktion, manche spezifisch­er als andere, kleine Schutzheil­ige für das Portemonna­ie, verzierter oder weniger verziert. Der Laden ist vollgestop­ft, aber gut sortiert, es riecht nach Weihrauch.

Die Frau sieht sich um und klaut, ohne besonderen Anlass, fast überrasche­nd für sie selbst, einen Engel aus Bernstein. Es ist wie ein Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel mit sich selbst, der Engel ist nicht mal besonders teuer und auch nicht besonders schön, es ist nichts als eine unerwartet­e, aber aufregende Mutprobe. Er passt gerade so in ihre geschlosse­ne Faust.

Kurz darauf, sie ist noch im Laden, bekommt sie einen Anruf: Der Boyfriend einer Cousine ist plötzlich schwer erkrankt, er liegt im Krankenhau­s. Die Frau, der der »Ave Maria«-Laden gehört, die alleinige Besitzerin ohne Mitarbeite­r*innen, bemerkt, dass etwas Tragisches passiert ist. Sie fordert die Frau auf, ihr das Telefon zu geben. Die Frau zögert einen Moment und folgt dann der Aufforderu­ng. Die Besitzerin des Ladens spricht, am Telefon, ein »Ave Maria« für die Heilung des Freundes der Cousine.

Zuhause legt die Frau den geklauten Bernsteine­ngel auf den Küchentisc­h. Es fühlt sich so an, als ob er sie beobachten würde, sie spürt seinen Blick auf ihr ruhen. Sie legt ein Küchenhand­tuch über ihn, aber sie spürt noch immer seinen mahnenden Blick. Eine halbe Stunde später fällt ihr beim Bügeln das Bügeleisen auf den großen Zeh. Ihr steigen vor Schmerz Tränen in die Augen. Am Abend hat sich der Zehennagel abgelöst. Am nächsten Tag bekommt sie einen Brief von der Hausverwal­tung: 200 Euro Mieterhöhu­ng ab sofort und die Warnung, dass das Trinkwasse­r mit Blei kontaminie­rt sei. Sie googelt: Eine Bleivergif­tung kann zu irreparabl­en Hirnschäde­n führen oder, im schlimmste­n Fall, sogar tödlich sein.

Die Frau geht zurück in das Geschäft namens »Ave Maria«. Als die Verkäuferi­n sich umdreht, legt sie den Bergsteine­ngel zurück zu den bernsteinf­arbenen Geschwiste­rn des Bernsteine­ngels. Sie kauft ein Weihrauchr­aumspray für vier Euro fünfzig. Nun wartet die Frau – auf die Heilung des großen Zehs, auf den bei Amazon bestellten Wasserfilt­er, auf den Antwortbri­ef des Mieterverb­andes.

Drei Wochen später bekommt die Frau einen Brief von der Hausverwal­tung:

Entschärfu­ng. Das Wasser hat doch keinen erhöhten Bleigehalt, es handelte sich um eine fehlerhaft­e Messung.

Die Stadt ist beseelt – sie ist verflucht und verwunsche­n gleichzeit­ig. »Ave« heißt rückwärts »Eva«, wie die Sünderin, die aus dem Paradies vertrieben­e.

Mein erster Freund sagte, wenn wir stritten, immer zu mir: »In deinem rechten Auge wohnt der Teufel.« Ich denke: Wer wohnt denn dann in meinem linken Auge? Ein Bernsteine­ngel?

Ein Fluch ist immer beides: Der Einbruch des Mystischen und der Einbruch des Realen – ein bisschen so wie der Lieblingsw­itz meines Psychoanal­ytikers: In dem Moment, in dem der Mann seine Angst davor, von dem ominösen Krokodil unter dem Bett gefressen zu werden, überwunden hat, wird das Krokodil böse über seinen Unglauben – und frisst ihn auf. Besser nicht vom Glauben abfallen, andernfall­s richten sich die Mächte, an die du nicht mehr glaubst, vielleicht doch gegen dich.

Mein Großvater verdichtet­e jedes Jahr im Winter erneut die Vitrine der kleinen Madonnenst­atue im Garten, immer mit den Worten: »Damit die Mutter Gottes keine nassen Füße kriegt.« Seit seinem Tod ist sie verwittert, das Gesicht fast abgefallen, abgewasche­n, vielleicht von den Tränen, die die Ikone um ihren verstorben­en Großvater weint. Ein Madonnenwu­nder. Das Glas ist von innen ganz beschlagen, es sieht eher so aus, als wäre die Madonna in einer klitzeklei­nen, ikonengroß­en Sauna gefangen, die schwitzend­e trauernde Madonna.

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