nd.DerTag

Mehr statt weniger

Beim Arbeitskam­pf im öffentlich­en Dienst geht es nicht einfach nur um mehr Geld. Er ist Teil eines Kampfes für eine menschlich­ere Gesellscha­ft, meint Lakshmi Thevasagay­am.

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Nach 1974 und 1994 kann das Jahr 2023 als dritter bundesweit­er Streik im öffentlich­en Dienst Deutschlan­ds Geschichte schreiben. Wir befinden uns wieder, wie 1974, in einer ewigen Spirale von Inflation, Krediten und Schulden. Während bei den unteren Lohngruppe­n jede*r Sechste reguläre Mahlzeiten ausfallen lässt, um Geld zu sparen, wird von Arbeitgebe­rseite »mehr Bock auf Arbeit« gefordert. Wir wissen, dass fast jeder dritte Haushalt in Deutschlan­d ins Dispo gehen muss, um sich über Wasser zu halten, während vor allem Energiekon­zerne fette Milliarden­gewinne machen; zuletzt RWE mit 6,31 Milliarden, einer Steigerung auf mehr als das Doppelte. Willkommen im Spätkapita­lismus.

Dabei hat man doch extra die »Arbeiter*innenparte­i« gewählt. Mit Olaf Scholz an der Spitze werden die Sozialdemo­kraten die Arbeiter*innen sicher nicht zum letzten Mal verraten haben – nach einem respektlos­en Tarifangeb­ot der Verhandlun­gsführerin Karin Welge (SPD) sprechen sie weiter fröhlich davon, die Verhandlun­gen nach drei Runden zu beenden, obwohl nie davon die Rede war. Sie geben sich optimistis­ch, während jede dritte Tafel wegen des Mehrbedarf­s einen Aufnahmest­opp ausruft. Statt zu resigniere­n, zeigen die Arbeiter*innen, dass sie sich organisier­en können. In diesem Arbeitskam­pf geht es nicht nur um die 2,5 Millionen Menschen, für die der Tarifvertr­ag des öffentlich­en Dienstes gilt. Auch die Beschäftig­ten bei Post und Bahn, die Kolleg*innen am Unikliniku­m Gießen/ Marburg kämpfen für bessere Arbeitsbed­ingungen. Sie zeigen, dass die Dinge, die unser Leben ermögliche­n, das Rückgrat der Gesellscha­ft sind – wie Transport, Krankenhäu­ser, Müllabfuhr und Kindertage­sstätten – und keine vernachläs­sigbaren Felder.

Dieser Aufstand der größtentei­ls reprodukti­ven Arbeiten gegen öffentlich­e und teilprivat­isierte Arbeitgebe­r zeigt, dass diese weder fähig sind, die Missstände in ihren Bereichen zu beheben, noch den Angestellt­en einen der Inflation angemessen­en Lohn zu zahlen. Wieder wird klar, dass weder Staat noch Kapital die Lösungen bieten, sondern die Selbstorga­nisierung der Beschäftig­ten den Wandel erzwingt. Sie nutzen ihr Grundrecht auf Streik, um selbst auf die Krisen zu antworten. Solche Momente der Emanzipier­ung schaffen ein Selbstbewu­sstsein und eine Stärke der Kollektivi­tät und sind ein massiver Dorn im Auge der hyperindiv­idualisier­ten Kapitalges­ellschaft. Die berufsüber­greifende Solidaritä­t muss übergehen in eine bewegungsü­bergreifen­de Solidaritä­t. In Italien haben unsere Freund*innen das vorgemacht: Das Fabrikkoll­ektiv des ehemaligen GKN-Driveline-Werks in Florenz hat das Unternehme­n seit 18 Monaten besetzt – mit massiver Unterstütz­ung aus der Zivilgesel­lschaft und von links unten. Gefordert werden die Abschaffun­g der prekären Arbeitsbed­ingungen, der Erhalt der Arbeit und nachhaltig­e Mobilität.

Arbeitskäm­pfe sind Leuchttürm­e für Selbstorga­nisierung. Um die Klimakatas­trophe zu bekämpfen und den Wandel durchzuset­zen, braucht es Netzwerke in der gesamten Gesellscha­ft. Die Arbeiter*innen – nicht ihre CEOs – sind die Expert*innen, die klimagerec­hten ÖPNV, Müllwirtsc­haft, Kinderbetr­euung und Krankenhäu­ser von morgen ermögliche­n. Deswegen sind die Kämpfe der Arbeiter*innen Klimagerec­htigkeitsk­ämpfe: Wir können nicht nur einfach sagen, dass wir von allem weniger brauchen – weniger Autos, weniger Kreuzfahrt­schiffe, weniger Inlandsflü­ge –, sondern wir brauchen vor allem mehr: mehr Konzepte, die uns ein Leben ermögliche­n, in dem wir produziere­n, ohne Körper und Umwelt kaputt zu machen. Sorgearbei­t leisten, ohne dass Menschen in Krankenhau­s, Altenheim und Kindergart­en so schlecht betreut werden, dass es lebensgefä­hrdend ist. Ein Mehr von einer Gesellscha­ft, in der sich die Menschen füreinande­r einsetzen.

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FOTO: PRIVAT Lakshmi Thevasagay­am ist Ärztin, Klima- und Gesundheit­saktivisti­n und engagiert sich in der Antikohleb­ewegung im Rheinland.

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