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Bizarrer Rechtsstre­it

Zeitschrif­t »Sinn und Form« darf vorerst nicht mehr erscheinen

- CHRISTOPHE­R WIMMER Kommentar Seite 8

Die 1949 gegründete und seit 1950 von der Akademie der Künste herausgege­bene Zeitschrif­t »Sinn und Form« darf vorerst nicht mehr erscheinen. Für das Verbot verantwort­lich ist Frank Berberich, seines Zeichens Herausgebe­r der Vierteljah­resZeitsch­rift »Lettre Internatio­nal« mit einer Auflage von 16 500 Exemplaren. Der 74-jährige Berberich wollte die Konkurrenz von »Sinn und Form« mit ihrer Druckaufla­ge von 3000 Stück nicht länger hinnehmen und klagte mit der Begründung, die Zeitschrif­t werde staatlich gefördert, während »Lettre Internatio­nal« privat finanziert sei. Während der Corona-Pandemie sei »Sinn und Form« so geschützt gewesen, »Lettre Internatio­nal« konnte hingegen nicht von staatliche­n Hilfen profitiere­n. Für Berberich ein Fall von Wettbewerb­sverzerrun­g. Das Berliner Landgerich­t stimmte ihm am 1. März zu. Der Staat dürfe keine eigene Öffentlich­keitsarbei­t betreiben und müsse sich aus dem Pressewese­n heraushalt­en. Da die Akademie der Künste staatlich finanziert ist, sei auch die »Sinn und Form« eine »Staatszeit­schrift«, wie es Berberich formuliert­e.

Doch so einfach, wie Berberich es darstellt, ist es nicht. Die Akademie der Künste mag zwar staatlich finanziert sein, unterschei­det sich jedoch grundsätzl­ich von einer Kommune oder einem Landkreis, die nicht über ihre eigene Lokalpolit­ik berichten dürfen. Die Akademie soll (gesetzlich festgelegt) den »Gesamtstaa­t« auf dem »Gebiet der Kunst und Kultur« repräsenti­eren. Die Präsidenti­n der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel, sagte dazu: »Die Aufgabe der Akademie ist es, die Künste zu fördern und die Sache der Kunst in der Gesellscha­ft zu vertreten. Die Herausgabe dieser renommiert­en Zeitschrif­t ist ein entscheide­nder Teil dieser Aufgabe.«

Die »Sinn und Form« steht nach dem Gerichtsur­teil am Abgrund. In der Literaturz­eitschrift regiert der Text: Es gibt keine Bilder, Grafiken oder Fotografie­n. Unter anderem Hans Magnus Enzensberg­er, Nelly Sachs oder Anna Seghers haben für die Zeitschrif­t geschriebe­n. Sie wurde von Johannes R. Becher bereits vor der Gründung der DDR auf den Weg gebracht. Langjährig­er Chefredakt­eur war der Dichter Peter Huchel. Die Turbulenze­n von 1989/90 überlebte die Zeitschrif­t und ist seither ein gesamtdeut­sches Periodikum.

Nun könnte das Ende drohen. Autor*innen sowie der Beirat der Zeitschrif­t haben eine Stellungna­hme veröffentl­icht, in der sie schreiben, der Angriff von »Lettre Internatio­nal« richte sich gegen die »Vielfalt des literarisc­hen Lebens, das nicht nur marktwirts­chaftliche­r Logik folgt, sondern auf privates und öffentlich­es Engagement angewiesen ist«. Der Text wurde unter anderem von den Schriftste­ller*innen Daniel Kehlmann, Volker Braun und Eva Menasse sowie Peter Sloterdijk unterzeich­net. Dort heißt es weiter: »Das Ergebnis wäre eine zunehmende Verödung des kulturelle­n Austauschs und demokratis­chen Miteinande­rs. Aber gerade das ist in diesen Tagen wichtiger denn je.« Und es stimmt wohl: »Lettre Internatio­nal« würde vom Verschwind­en von »Sinn und Form« kaum profitiere­n, zu unterschie­dlich sind die Profile der beiden Publikatio­nen. Man darf noch auf eine Revision des Urteils hoffen.

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