Vom Traum, wieder greifen zu können
In der Schweiz werden Roboterhände für gelähmte Kinder entwickelt. Noch ist das Projekt in der Testphase
Ein Hand-Exoskelett soll den Alltag erkrankter Kinder verbessern. Das Ziel: mit den gelähmten Händen wieder Gegenstände zu greifen und loszulassen. Erste Tests sind vielversprechend.
30 Autominuten südwestlich von Zürich: Am Waldrand des beschaulichen Städtchens Affoltern stehe ich vor dem Eingang der KinderReha Schweiz. Ein modernes Betongebäude, draußen auf dem Spielplatz verbringen Kinder mit ihren Eltern den Nachmittag. Drinnen arbeiten Prof. Hubertus van Hedel und sein Team an einer großen technischen Entwicklung: einem Hand-Exoskelett. Das sind »Systeme oder Geräte, die der menschlichen Körperform folgen«, erklärt Forschungsleiter van Hedel »und die von außen wie mit der Hand verbunden sind«. Dieses »äußerliche Skelett« sorge dafür, »dass bestimmte Bewegungen mit der menschlichen Hand durchgeführt werden können.«
In einem Behandlungsraum zeigt van Hedel einen Prototyp. Ein schwarzer Handschuh, auf dem biegsame, knallgrüne Plastikteile zusammen mit dünnen, flachen Aluminiumfedern befestigt sind. Außerdem kleinste Schrauben und Steckverbindungen, ebenfalls aus Plastik. Das Forschungsteam hat dieses erste motorisierte Hand-Exoskelett speziell für Kinder und Jugendliche entwickelt. Flaschen aufmachen, Brot schneiden, Spielkarten halten oder Knöpfe aufheben mittels Robotik – gedacht ist das Gerät für alle jene mit einer angeborenen oder erworbenen Schädigung des Gehirns oder Rückenmarks, wodurch sie ihre Hände nur eingeschränkt bewegen können.
Das Modell Pexo wirkt alles andere als futuristisch: Jeder Finger besteht an der Oberseite aus drei dünnen Blattfedern, die wie Sehnen funktionieren und über Kabel mit einem Motor verbunden sind. Aktiviert wird das Gerät mittels Sprachsteuerung oder mit einem blauen Button. Dann üben die beweglichen Blattfedern einen leichten Druck auf die menschlichen Finger aus, und die biologische Hand der Patienten schließt oder öffnet sich – unterstützt durch die Technik. In einem etwa zwei Kilogramm schweren Rückenmodul sind Elektronik, Motoren und Batterie untergebracht. Dadurch wird das Gewicht auf der Hand reduziert, und die Kinder können sich frei bewegen. Denn Patienten mit einer Handlähmung können häufig auch Schulter und Ellenbogen nur eingeschränkt benutzen.
»Das Gute ist, dass der Mechanismus selbst sich der Hand, also der grundlegenden Struktur der Kinder anpasst«, sagt Jan Dittli. Er ist als Ingenieur der ETH Zürich an der Entwicklung des Pexo beteiligt. »Das heißt, wenn man ein größeres Objekt greift, wird die Kraft über das ganze Objekt verteilt. Wenn man ein kleines Objekt mit den Fingerspitzen greifen will, wird die Kraft nur darauf ausgeübt.«
Aber die Roboterhand hat mechanische Grenzen: Finger können nicht einzeln angesteuert werden. Lediglich der Daumen und die restlichen vier Finger zusammen lassen sich separat aktivieren, um die Hand zu öffnen oder zu schließen. Klavierspielen: Fehlanzeige. Aber nur so ist ingenieurtechnisch das geringe Gewicht des Exoskeletts möglich.
Das Handmodul wiegt etwa 120 Gramm, was ungefähr einem Smartphone entspricht.
Auf Sensortechnik oder gar Steuerung über Verbindungen zu Nerven oder zum Gehirn hat van Hedels Team bewusst verzichtet. Das sei zwar medizinisch spannend, die Forschung stecke da aber noch in den Kinderschuhen. Bislang sind therapeutische Robotergeräte sehr sperrig, schwer und groß. Mit Pexo können Kinder und Jugendliche auf einfache Weise Bewegungen mit Alltagsgegenständen üben und Dinge heben, die bis zu einem halben Kilogramm wiegen. Die große Tafel Schokolade ist kein Problem, die volle Milchtüte schon grenzwertig.
Hände sind unser wichtigstes Werkzeug, sagt van Hedel. Bei vielen Schlaganfallbetroffenen sind die Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Trotz intensiver Physiound Ergotherapie können zwei Drittel von ihnen ihre Hände nur begrenzt nutzen. Für die Selbstständigkeit im Alltag – etwa beim Schuhe binden – eine schwere Bürde. Van Hedel und Jan Dittli wollen das mit dem Exoskelett ändern.
Wanda kommt in den Behandlungsraum; die 14-Jährige gehört zu den rund 240 Kindern und Jugendlichen pro Jahr, die mehrere Wochen oder wie Wanda sogar Monate in der Reha verbringen, weil sie mit den Folgen schwerer Krankheiten oder Verletzungen zu kämpfen haben.
Wanda hatte vor knapp einem Jahr einen Schlaganfall, konnte linksseitig Arm, Bein und Hand nicht mehr richtig bewegen; dazu kamen immer wieder Sprachstörungen. Durch intensive Reha hat sich das geändert. Sie spricht wieder flüssig, aber noch immer will sich die Hand nicht so richtig bewegen wie früher. Trotzdem ist sie entspannt, redet und erzählt von ihrer Geschichte, während Jan Dittli ihr vorsichtig das Hand-Exoskelett überstreift. Alleine würde Wanda das nicht schaffen.
Jetzt soll sie kleine Bauklötze aus einem Holzkasten greifen und über eine Trennwand hinweg in einen zweiten Kasten legen. Was einfach aussieht, ist für Wanda mühevoll. Sie gibt über die Sprachsteuerung den Befehl, die Hand zu schließen, plötzlich beginnen die Motoren des Exoskeletts leise zu surren. Ihre gelähmten Finger krümmen sich, sie greift das Holzklötzchen und legt es in dem gegenüberliegenden Kasten ab. »Gummiboot« ist ihr selbst gewähltes Codewort, das für die Spracherkennungssoftware klar zu verstehen ist. Die Hand öffnet sich, und es geht wieder von vorne los. Wanda lächelt. Ziemlich anstrengend alles, aber es klappt ganz gut. Dabei werden Muskeln, Sehnen und Gelenke koordinativ trainiert, damit das Greifen später »leichter von der Hand geht«.
Dittli zeigt auf seinem Notebook einen Film. Die siebenjährige Isabel sitzt im Behandlungszimmer an einem Tisch. Auf ihrer linken Hand ist das Exoskelett. Vor ihr steht eine volle Plastikflasche. Sie hat Schwierigkeiten, Alltagsobjekte zu greifen, wie zum Beispiel eine Flasche, und muss dann Kompensationsstrategien anwenden, »indem sie die Flasche gegen den Körper drückt und einklemmt, um sie zu öffnen«.
Mit dem Einschalten der Exoskeletthand beginnen die Elektromotoren leise zu surren. Sie krümmen die gelähmten Finger des kleinen Mädchens um die Trinkflasche. Das Exoskelett ist nun fest um die Flasche arretiert wie eine Greifzange. Isabel hebt den Arm an und damit die Flasche im Exoskelett. Mit der gesunden rechten Hand öffnet sie die Flasche und gießt sich Wasser in einen Becher.
Die Patienten in der Kinder-Reha sind zwischen 0 und 18 Jahren alt. Im Unterschied zu vielen Rehabilitationszentren für Erwachsene, die sich auf Patienten mit Schlaganfällen oder Multiple Sklerose spezialisieren, reicht das Spektrum hier von Kindern mit relativ wenigen Einschränkungen bis zu denjenigen, sie sehr stark beeinträchtigt sind, nicht greifen oder laufen können. »Zu uns kommen vorwiegend Kinder mit einer Zerebralparese. Und bei der Zerebralparese gibt es die sehr große Gruppe von der sogenannten spastischen Zerebralparese«, erklärt Prof. van Hedel. Die könne einseitig oder beidseitig sein. Es gebe in der Reha aber auch Kinder mit erworbenen Hirnschädigungen, zum Beispiel durch einen Schlaganfall und Kinder mit einer »traumatischen Hirnverletzung, also einem Sport- oder Verkehrsunfall«.
Zerebralparesen führen zu Bewegungsstörungen wie Lähmungen, Muskelsteifheit oder Spastik an Händen, Armen oder Beinen. Die Beeinträchtigungen können dabei unterschiedlich schwer sein – mit der Folge, dass alltägliche Bewegungen wie das Öffnen einer Flasche oder das Halten von Besteck nicht möglich sind und die beeinträchtigte Hand immer weniger benutzt wird, so van Hedel: »Es gibt ein Phänomen bei Schlaganfallpatienten: das sogenannte Learn-notuse«. Das heißt, wenn Patienten mit einer Verletzung im Hirn, im zentralen Nervensystem zum Beispiel ihre Hand zu bewegen versuchen »und dann merken, das funktioniert nicht richtig; es gelingt mir nicht, dann erhalten sie mehrfach eine Art von negativem Feedback. Und wie schützen sie sich davor? Sie bewegen den verletzten Arm nicht mehr.«
Wenn sich das über eine längere Zeit vorsetze, dann führe das zu einem sogenannten neurologischen Vergessen, erklärt van Hedel. Das Ergebnis: Es komme zu Veränderungen der Knochendichte, der Muskeln, Sehnen und Gelenke – einer Art Abwärtsspirale für die Patienten. Die geschwächte Hand bleibe nicht nur untrainiert, sondern mühsam erworbene Fähigkeiten gingen wieder verloren, Einschränkungen und Lähmungsfolgen würden schlimmer.
Ein kontinuierliches Training mit dem Hand-Exoskelett könnte dem entgegenwirken. Aber ein Wunderheilmittel sei die Robotik nicht, sagt van Hedel: Technologien könnten Funktionen verbessern (Hand öffnen und schließen, Pinzettengriff). Aber damit das in alltagsrelevante Handlungen übersetzt und eingesetzt werden kann, brauche es noch immer konventionelle Therapie und vor allem: Motivation.
Ob Kinder vom Hand-Exoskelett und vom Robotik-gestützten Training stärker profitieren
Plötzlich beginnen die Motoren des Exoskeletts leise zu surren. Wandas gelähmte Finger krümmen sich, sie greift das Holzklötzchen und legt es in dem gegenüberliegenden Kasten ab.
als von konventionellen Reha-Maßnahmen, das kann Forschungsleiter van Hedel nicht beantworten, weil es bislang kaum wissenschaftliche Studien darüber gibt. Dafür bräuchte man eine relativ große, einheitliche Gruppe. Die Kinder in der Neuro-Rehabilitation sind aber eine sehr kleine und unterschiedliche Gruppe – ganz anders, als das bei Erwachsenen der Fall ist, wo es beispielsweise viele Schlaganfallpatienten relativ ähnliche Einschränkungen haben. Allerdings habe sich in einer ersten Studie herausgestellt, so Jan Dittli, »dass vor allem Kinder mit einer starken Einschränkung der Handfunktion bei Aufgaben, für die beide Hände benötigt werden, vom Gerät profitieren können«.
Gleichwohl: Das Exoskelett ist noch im Test-Stadium. Speziell für den Einsatz zu Hause ist das System noch nicht ausgereift, denn es muss handlich sein, einfach zu bedienen, unfall- und möglichst wartungsfrei sein. Und es muss den kindlichen Bedürfnissen entsprechen.
Robotisch betriebene Exoskelette wurden Anfang des Jahrtausends zuerst im Militär und später für therapeutische Zwecke entwickelt. Gangroboter für Schlaganfallpatienten oder bei Querschnittslähmungen existieren bereits: etwa zum Stehen, Gehen oder Greifen. Neuerdings interessieren sich auch Handwerksbetriebe, die Automobilbranche, Logistikdienstleister und Träger von Pflegeeinrichtungen für Exoskelette - überall dort, wo körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten geleistet werden. Etwa wenn es gilt, täglich mehrere Tonnen Ersatzteile, Karosserien, Zementsäcke oder Patienten zu wuchten.
Und wie sieht die Zukunft aus? Werden Hand-Exoskelette irgendwann an die Funktionen echter Hände herankommen? Van Hedel gibt eine eindeutige Antwort: Nein, die menschliche Hand ist zu filigran, zu kompliziert, als dass man ihre Funktion künstlich ersetzen könnte, so wie die Roboterhand von Luke Skywalker. Die bleibt eine Star-WarsFantasie der Traumfabrik Hollywood. Trotzdem könne ein Exoskelett für manche Kinder mit angeborenen oder erworbenen Hirnschädigungen hilfreich sein, resümiert der Forschungsleiter. »Kommerziell ist das keine riesige Zielgruppe für eine Produktionsfirma.« Er ergänzt, »dass die Humanität einer Gesellschaft sich gerade darin zeigt, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht«.
Robotisch betriebene Exoskelette wurden Anfang des Jahrtausends zuerst im Militär und später für therapeutische Zwecke entwickelt.