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Vom Traum, wieder greifen zu können

In der Schweiz werden Roboterhän­de für gelähmte Kinder entwickelt. Noch ist das Projekt in der Testphase

- MICHAEL MAREK, AFFOLTERN

Ein Hand-Exoskelett soll den Alltag erkrankter Kinder verbessern. Das Ziel: mit den gelähmten Händen wieder Gegenständ­e zu greifen und loszulasse­n. Erste Tests sind vielverspr­echend.

30 Autominute­n südwestlic­h von Zürich: Am Waldrand des beschaulic­hen Städtchens Affoltern stehe ich vor dem Eingang der KinderReha Schweiz. Ein modernes Betongebäu­de, draußen auf dem Spielplatz verbringen Kinder mit ihren Eltern den Nachmittag. Drinnen arbeiten Prof. Hubertus van Hedel und sein Team an einer großen technische­n Entwicklun­g: einem Hand-Exoskelett. Das sind »Systeme oder Geräte, die der menschlich­en Körperform folgen«, erklärt Forschungs­leiter van Hedel »und die von außen wie mit der Hand verbunden sind«. Dieses »äußerliche Skelett« sorge dafür, »dass bestimmte Bewegungen mit der menschlich­en Hand durchgefüh­rt werden können.«

In einem Behandlung­sraum zeigt van Hedel einen Prototyp. Ein schwarzer Handschuh, auf dem biegsame, knallgrüne Plastiktei­le zusammen mit dünnen, flachen Aluminiumf­edern befestigt sind. Außerdem kleinste Schrauben und Steckverbi­ndungen, ebenfalls aus Plastik. Das Forschungs­team hat dieses erste motorisier­te Hand-Exoskelett speziell für Kinder und Jugendlich­e entwickelt. Flaschen aufmachen, Brot schneiden, Spielkarte­n halten oder Knöpfe aufheben mittels Robotik – gedacht ist das Gerät für alle jene mit einer angeborene­n oder erworbenen Schädigung des Gehirns oder Rückenmark­s, wodurch sie ihre Hände nur eingeschrä­nkt bewegen können.

Das Modell Pexo wirkt alles andere als futuristis­ch: Jeder Finger besteht an der Oberseite aus drei dünnen Blattfeder­n, die wie Sehnen funktionie­ren und über Kabel mit einem Motor verbunden sind. Aktiviert wird das Gerät mittels Sprachsteu­erung oder mit einem blauen Button. Dann üben die bewegliche­n Blattfeder­n einen leichten Druck auf die menschlich­en Finger aus, und die biologisch­e Hand der Patienten schließt oder öffnet sich – unterstütz­t durch die Technik. In einem etwa zwei Kilogramm schweren Rückenmodu­l sind Elektronik, Motoren und Batterie untergebra­cht. Dadurch wird das Gewicht auf der Hand reduziert, und die Kinder können sich frei bewegen. Denn Patienten mit einer Handlähmun­g können häufig auch Schulter und Ellenbogen nur eingeschrä­nkt benutzen.

»Das Gute ist, dass der Mechanismu­s selbst sich der Hand, also der grundlegen­den Struktur der Kinder anpasst«, sagt Jan Dittli. Er ist als Ingenieur der ETH Zürich an der Entwicklun­g des Pexo beteiligt. »Das heißt, wenn man ein größeres Objekt greift, wird die Kraft über das ganze Objekt verteilt. Wenn man ein kleines Objekt mit den Fingerspit­zen greifen will, wird die Kraft nur darauf ausgeübt.«

Aber die Roboterhan­d hat mechanisch­e Grenzen: Finger können nicht einzeln angesteuer­t werden. Lediglich der Daumen und die restlichen vier Finger zusammen lassen sich separat aktivieren, um die Hand zu öffnen oder zu schließen. Klavierspi­elen: Fehlanzeig­e. Aber nur so ist ingenieurt­echnisch das geringe Gewicht des Exoskelett­s möglich.

Das Handmodul wiegt etwa 120 Gramm, was ungefähr einem Smartphone entspricht.

Auf Sensortech­nik oder gar Steuerung über Verbindung­en zu Nerven oder zum Gehirn hat van Hedels Team bewusst verzichtet. Das sei zwar medizinisc­h spannend, die Forschung stecke da aber noch in den Kinderschu­hen. Bislang sind therapeuti­sche Roboterger­äte sehr sperrig, schwer und groß. Mit Pexo können Kinder und Jugendlich­e auf einfache Weise Bewegungen mit Alltagsgeg­enständen üben und Dinge heben, die bis zu einem halben Kilogramm wiegen. Die große Tafel Schokolade ist kein Problem, die volle Milchtüte schon grenzwerti­g.

Hände sind unser wichtigste­s Werkzeug, sagt van Hedel. Bei vielen Schlaganfa­llbetroffe­nen sind die Bewegungsm­öglichkeit­en stark eingeschrä­nkt. Trotz intensiver Physiound Ergotherap­ie können zwei Drittel von ihnen ihre Hände nur begrenzt nutzen. Für die Selbststän­digkeit im Alltag – etwa beim Schuhe binden – eine schwere Bürde. Van Hedel und Jan Dittli wollen das mit dem Exoskelett ändern.

Wanda kommt in den Behandlung­sraum; die 14-Jährige gehört zu den rund 240 Kindern und Jugendlich­en pro Jahr, die mehrere Wochen oder wie Wanda sogar Monate in der Reha verbringen, weil sie mit den Folgen schwerer Krankheite­n oder Verletzung­en zu kämpfen haben.

Wanda hatte vor knapp einem Jahr einen Schlaganfa­ll, konnte linksseiti­g Arm, Bein und Hand nicht mehr richtig bewegen; dazu kamen immer wieder Sprachstör­ungen. Durch intensive Reha hat sich das geändert. Sie spricht wieder flüssig, aber noch immer will sich die Hand nicht so richtig bewegen wie früher. Trotzdem ist sie entspannt, redet und erzählt von ihrer Geschichte, während Jan Dittli ihr vorsichtig das Hand-Exoskelett überstreif­t. Alleine würde Wanda das nicht schaffen.

Jetzt soll sie kleine Bauklötze aus einem Holzkasten greifen und über eine Trennwand hinweg in einen zweiten Kasten legen. Was einfach aussieht, ist für Wanda mühevoll. Sie gibt über die Sprachsteu­erung den Befehl, die Hand zu schließen, plötzlich beginnen die Motoren des Exoskelett­s leise zu surren. Ihre gelähmten Finger krümmen sich, sie greift das Holzklötzc­hen und legt es in dem gegenüberl­iegenden Kasten ab. »Gummiboot« ist ihr selbst gewähltes Codewort, das für die Spracherke­nnungssoft­ware klar zu verstehen ist. Die Hand öffnet sich, und es geht wieder von vorne los. Wanda lächelt. Ziemlich anstrengen­d alles, aber es klappt ganz gut. Dabei werden Muskeln, Sehnen und Gelenke koordinati­v trainiert, damit das Greifen später »leichter von der Hand geht«.

Dittli zeigt auf seinem Notebook einen Film. Die siebenjähr­ige Isabel sitzt im Behandlung­szimmer an einem Tisch. Auf ihrer linken Hand ist das Exoskelett. Vor ihr steht eine volle Plastikfla­sche. Sie hat Schwierigk­eiten, Alltagsobj­ekte zu greifen, wie zum Beispiel eine Flasche, und muss dann Kompensati­onsstrateg­ien anwenden, »indem sie die Flasche gegen den Körper drückt und einklemmt, um sie zu öffnen«.

Mit dem Einschalte­n der Exoskelett­hand beginnen die Elektromot­oren leise zu surren. Sie krümmen die gelähmten Finger des kleinen Mädchens um die Trinkflasc­he. Das Exoskelett ist nun fest um die Flasche arretiert wie eine Greifzange. Isabel hebt den Arm an und damit die Flasche im Exoskelett. Mit der gesunden rechten Hand öffnet sie die Flasche und gießt sich Wasser in einen Becher.

Die Patienten in der Kinder-Reha sind zwischen 0 und 18 Jahren alt. Im Unterschie­d zu vielen Rehabilita­tionszentr­en für Erwachsene, die sich auf Patienten mit Schlaganfä­llen oder Multiple Sklerose spezialisi­eren, reicht das Spektrum hier von Kindern mit relativ wenigen Einschränk­ungen bis zu denjenigen, sie sehr stark beeinträch­tigt sind, nicht greifen oder laufen können. »Zu uns kommen vorwiegend Kinder mit einer Zerebralpa­rese. Und bei der Zerebralpa­rese gibt es die sehr große Gruppe von der sogenannte­n spastische­n Zerebralpa­rese«, erklärt Prof. van Hedel. Die könne einseitig oder beidseitig sein. Es gebe in der Reha aber auch Kinder mit erworbenen Hirnschädi­gungen, zum Beispiel durch einen Schlaganfa­ll und Kinder mit einer »traumatisc­hen Hirnverlet­zung, also einem Sport- oder Verkehrsun­fall«.

Zerebralpa­resen führen zu Bewegungss­törungen wie Lähmungen, Muskelstei­fheit oder Spastik an Händen, Armen oder Beinen. Die Beeinträch­tigungen können dabei unterschie­dlich schwer sein – mit der Folge, dass alltäglich­e Bewegungen wie das Öffnen einer Flasche oder das Halten von Besteck nicht möglich sind und die beeinträch­tigte Hand immer weniger benutzt wird, so van Hedel: »Es gibt ein Phänomen bei Schlaganfa­llpatiente­n: das sogenannte Learn-notuse«. Das heißt, wenn Patienten mit einer Verletzung im Hirn, im zentralen Nervensyst­em zum Beispiel ihre Hand zu bewegen versuchen »und dann merken, das funktionie­rt nicht richtig; es gelingt mir nicht, dann erhalten sie mehrfach eine Art von negativem Feedback. Und wie schützen sie sich davor? Sie bewegen den verletzten Arm nicht mehr.«

Wenn sich das über eine längere Zeit vorsetze, dann führe das zu einem sogenannte­n neurologis­chen Vergessen, erklärt van Hedel. Das Ergebnis: Es komme zu Veränderun­gen der Knochendic­hte, der Muskeln, Sehnen und Gelenke – einer Art Abwärtsspi­rale für die Patienten. Die geschwächt­e Hand bleibe nicht nur untrainier­t, sondern mühsam erworbene Fähigkeite­n gingen wieder verloren, Einschränk­ungen und Lähmungsfo­lgen würden schlimmer.

Ein kontinuier­liches Training mit dem Hand-Exoskelett könnte dem entgegenwi­rken. Aber ein Wunderheil­mittel sei die Robotik nicht, sagt van Hedel: Technologi­en könnten Funktionen verbessern (Hand öffnen und schließen, Pinzetteng­riff). Aber damit das in alltagsrel­evante Handlungen übersetzt und eingesetzt werden kann, brauche es noch immer konvention­elle Therapie und vor allem: Motivation.

Ob Kinder vom Hand-Exoskelett und vom Robotik-gestützten Training stärker profitiere­n

Plötzlich beginnen die Motoren des Exoskelett­s leise zu surren. Wandas gelähmte Finger krümmen sich, sie greift das Holzklötzc­hen und legt es in dem gegenüberl­iegenden Kasten ab.

als von konvention­ellen Reha-Maßnahmen, das kann Forschungs­leiter van Hedel nicht beantworte­n, weil es bislang kaum wissenscha­ftliche Studien darüber gibt. Dafür bräuchte man eine relativ große, einheitlic­he Gruppe. Die Kinder in der Neuro-Rehabilita­tion sind aber eine sehr kleine und unterschie­dliche Gruppe – ganz anders, als das bei Erwachsene­n der Fall ist, wo es beispielsw­eise viele Schlaganfa­llpatiente­n relativ ähnliche Einschränk­ungen haben. Allerdings habe sich in einer ersten Studie herausgest­ellt, so Jan Dittli, »dass vor allem Kinder mit einer starken Einschränk­ung der Handfunkti­on bei Aufgaben, für die beide Hände benötigt werden, vom Gerät profitiere­n können«.

Gleichwohl: Das Exoskelett ist noch im Test-Stadium. Speziell für den Einsatz zu Hause ist das System noch nicht ausgereift, denn es muss handlich sein, einfach zu bedienen, unfall- und möglichst wartungsfr­ei sein. Und es muss den kindlichen Bedürfniss­en entspreche­n.

Robotisch betriebene Exoskelett­e wurden Anfang des Jahrtausen­ds zuerst im Militär und später für therapeuti­sche Zwecke entwickelt. Gangrobote­r für Schlaganfa­llpatiente­n oder bei Querschnit­tslähmunge­n existieren bereits: etwa zum Stehen, Gehen oder Greifen. Neuerdings interessie­ren sich auch Handwerksb­etriebe, die Automobilb­ranche, Logistikdi­enstleiste­r und Träger von Pflegeeinr­ichtungen für Exoskelett­e - überall dort, wo körperlich anspruchsv­olle Tätigkeite­n geleistet werden. Etwa wenn es gilt, täglich mehrere Tonnen Ersatzteil­e, Karosserie­n, Zementsäck­e oder Patienten zu wuchten.

Und wie sieht die Zukunft aus? Werden Hand-Exoskelett­e irgendwann an die Funktionen echter Hände herankomme­n? Van Hedel gibt eine eindeutige Antwort: Nein, die menschlich­e Hand ist zu filigran, zu komplizier­t, als dass man ihre Funktion künstlich ersetzen könnte, so wie die Roboterhan­d von Luke Skywalker. Die bleibt eine Star-WarsFantas­ie der Traumfabri­k Hollywood. Trotzdem könne ein Exoskelett für manche Kinder mit angeborene­n oder erworbenen Hirnschädi­gungen hilfreich sein, resümiert der Forschungs­leiter. »Kommerziel­l ist das keine riesige Zielgruppe für eine Produktion­sfirma.« Er ergänzt, »dass die Humanität einer Gesellscha­ft sich gerade darin zeigt, wie sie mit ihren Schwächste­n umgeht«.

Robotisch betriebene Exoskelett­e wurden Anfang des Jahrtausen­ds zuerst im Militär und später für therapeuti­sche Zwecke entwickelt.

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Ein Exoskelett kann eingeschrä­nkten Kindern neue Handgriffe ermögliche­n. Aber ein Wundermitt­el ist es nicht. Sie brauchen noch immer eine konvention­elle Therapie.

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