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Düstere Aussichten für Recep Tayyip Erdoğan

In der Türkei zeichnet sich ein Machtwechs­el ab

- CHRISTOPHE­R WIMMER Kommentar Seite 8

Bei den Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen im Mai könnte die linke Partei HDP entscheide­nden Einfluss haben, ihr droht jedoch ein Verbot.

In der Türkei werden am 14. Mai der Präsident und das Parlament gewählt. Drei Monate nach dem Erdbeben, das in der Türkei mehr als 47000 Menschen getötet und Hunderttau­sende obdachlos gemacht hat, wird der Urnengang zum Lackmustes­t für den 69-jährigen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan. Er tritt mit seiner islamisch-konservati­ven AKP zusammen mit der nationalis­tischen MHP an. Unter Führung der sozialdemo­kratischen CHP haben sechs Opposition­sparteien ein Bündnis gegen ihn geschmiede­t, das berechtigt­e Hoffnungen auf einen Machtwechs­el hat.

Einer aktuellen Umfrage des türkischen Meinungsfo­rschungsin­stituts Piar zufolge hat das Bündnis unter dem Spitzenkan­didaten Kemal Kılıçdaroğ­lu (74) einen deutlichen Vorsprung vor Erdoğan. 57,1 Prozent wollen Kılıçdaroğ­lu als Präsidente­n haben, Erdoğan kommt nur auf 42,9 Prozent. Während laut Umfrage die AKP 30,8 Prozent der Stimmen auf sich vereinen könnte, entfielen auf die CHP 32,2 Prozent. Im Januar kam die AKP bei einer Umfrage desselben Instituts noch auf 31,2 Prozent, nun zog die CHP an der AKP vorbei.

Schwere Wirtschaft­skrise

Die Türkei ist von einer Inflation von zeitweise bis zu 85 Prozent und einer Erwerbslos­enquote von rund zehn Prozent betroffen. Daneben kritisiere­n die Menschen auch das schlechte Management nach dem Erdbeben. Vor allem in den ersten Tagen nach dem Beben reagierte Erdoğans Regierung planlos und langsam – dabei hatte Erdoğan versproche­n, durch die Einführung des Präsidials­ystems 2018 den Staat effektiver zu machen.

Entscheide­nden Einfluss auf den Ausgang der Wahl dürften die kurdischen Gebiete haben. Dort genießt die linke Demokratis­che Partei der Völker (HDP) starken Rückhalt und könnte landesweit 11,6 Prozent der Stimmen erreichen. Die HDP gehört keinem Bündnis an, hat aber angekündig­t, Opposition­sführer Kılıçdaroğ­lu unter bestimmten Bedingunge­n zu unterstütz­en. Türkische Medien berichten davon, dass sie auf eigene Kandidat*innen verzichten würde, um das Bündnis zu stärken. Somit könnte die Partei zum Königsmach­er für Kılıçdaroğ­lu werden.

Gegen die HDP läuft jedoch ein Verbotsver­fahren, am 11. April gibt es dazu eine Verhandlun­g vor dem Verfassung­sgericht. Das Verfahren dürfte bis nach den Urnengang andauern. Somit weiß die Partei nicht, ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen kann. Sollte es ihr verboten werden, hat sie mit der Yeşil Sol Parti (»Grüne Linksparte­i«) eine Ersatzpart­ei gefunden, zu deren Wahl sie dann aufrufen würde. Diese bereits 2010 gegründete Kleinparte­i hatte in den letzten Monaten im gesamten Land Parteistru­kturen aufgebaut, um zu den Wahlen zugelassen zu werden.

Zweifel an freien Wahlen

Der seit 2016 inhaftiert­e, frühere HDP-Vorsitzend­e Selahattin Demirtaş teilte das Logo der Yeşil Sol auf Twitter und forderte die Menschen auf, es sich auszudruck­en und an Kühlschrän­ke und Zimmertüre­n zu kleben. »Wir werden es brauchen«, schrieb er. Der Vorsitzend­e der Istanbuler HDP, Ferhat Encü, sagte der kurdischen Nachrichte­nagentur Rudaw, die Partei würde ihr endgültige­s Vorgehen noch absprechen und bald bekannt geben.

Beobachter hegen Zweifel daran, ob die Wahlen frei und fair durchgefüh­rt werden und ob Erdoğan eine Niederlage überhaupt anerkennt. Sollte er die Wahl verlieren, drohen ihm vermutlich Anklagen wegen Korruption.

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