nd.DerTag

Gewerkscha­ften schlagkräf­tiger machen

Mitorganis­atorin Fanny Zeise über die 5. RLS-Konferenz Gewerkscha­ftliche Erneuerung

- SIMON POELCHAU

Sie haben für Ihre 5. Konferenz gewerkscha­ftliche Erneuerung im Mai bereits fast 1000 Anmeldunge­n. Sind Sie überrascht über den großen Zulauf?

Eigentlich nicht. Bisher sind die Konferenze­n von Mal zu Mal größer geworden. Es gibt ein enormes Bedürfnis nach einer Strategied­ebatte und dem Austausch über die gegenwärti­gen Arbeitskäm­pfe. Die große Resonanz zeigt aber sicher auch, dass das Interesse an Gewerkscha­ften insgesamt gestiegen ist.

Derzeit laufen Tarifverha­ndlungen im öffentlich­en Dienst und bei der Deutschen Post. Beide Auseinande­rsetzungen sind wieder härter als vergangene. Inwiefern spielen sie auf der Konferenz eine Rolle?

Es wird Arbeitsgru­ppen geben, in denen diese und andere Tarifrunde­n analysiert werden. Schließlic­h passiert hier einiges, das auch anstehende­n Kämpfen eine Inspiratio­n sein kann.

Was wäre das zum Beispiel?

Dass Verdi im Rahmen der Tarifrunde im öffentlich­en Dienst in vielen Städten den Nahverkehr lahmgelegt hat und zusammen mit Fridays for Future auf die Straße gegangen ist. Das hat viel Aufmerksam­keit erzeugt, weil die Arbeiterin­nen und Arbeiter ihre Streikmach­t genutzt haben, um gemeinsam mit der Klimabeweg­ung für einen guten öffentlich­en Nahverkehr zu kämpfen.

Inwiefern wird das Verhältnis der Gewerkscha­ften zur Klimabeweg­ung Gegenstand der Konferenz sein?

Auf der Auftaktver­anstaltung wird die stellvertr­etende Verdi-Vorsitzend­e Christine Behle unter anderem mit Felicitas Heinisch von Fridays for Future, Paul Hecker von der IG Metall Köln-Leverkusen und Linke-Co-Chefin Janine Wissler diskutiere­n, wie die Verkehrswe­nde solidarisc­h gestaltet werden kann. In diesem Zusammenha­ng werden auch der Umbau der Automobili­ndustrie und Auseinande­rsetzungen gegen Beschäftig­ungsabbau oder Betriebssc­hließungen bei Ford und anderswo eine große Rolle spielen.

Wie unterschei­det sich die diesjährig­e Gewerkscha­ftskonfere­nz von ihren Vorgängeri­nnen?

Das Programm ist noch mal umfangreic­her und es stehen mit den aktuellen Auseinande­rsetzungen auch neue Themen zur Diskussion. Vor allem ist der Trägerkrei­s breit wie nie: Neben vielen IG-Metall-Geschäftss­tellen, EVG, GEW, IG BAU und dem DGB sind die NRW-Landesbezi­rke von Verdi und NGG dabei. Aber wie immer richtet sich die Konferenz an all jene, die Gewerkscha­ften verändern und erneuern wollen. Ziel ist, sich zu vernetzen und zu diskutiere­n, wie Beschäftig­te mit neuen, offensiven Strategien die kommenden Auseinande­rsetzungen gewinnen können.

Stichwort Erneuerung: Was sind da gegenwärti­g die dringendst­en Aufgaben der Gewerkscha­ften?

Die Gewerkscha­ften stehen vor der Herausford­erung, ihre Praxis konfliktor­ientierter, beteiligun­gsorientie­rter und politische­r zu gestalten und verstärkt gesellscha­ftliche Bündnisse einzugehen, um ihre Durchsetzu­ngskraft zu stärken. Das Bündnis zwischen Verdi und Fridays for Future ist da ein

gutes Beispiel. Es besteht bereits seit der Tarifrunde im Nahverkehr 2020 und soll auch 2024 fortgeführ­t werden. Aber auch bei der IG Metall gibt es interessan­te Ansätze, solche Kooperatio­nen einzugehen. Dabei geht es meistens um Auseinande­rsetzungen in der bereits laufenden Transforma­tion der Industrie.

Was verstehen Sie darunter, dass die Gewerkscha­ften beteiligun­gsorientie­rter werden sollen?

Es geht darum, dass die Gewerkscha­ftsmitglie­der bei der Aufstellun­g von Forderunge­n und der strategisc­hen Planung von Arbeitskon­flikten stärker mitwirken können. Das wird auch Thema einiger Arbeitsgru­ppen auf der Konferenz sein. Eine analysiert zum Beispiel die Rolle der Team-Delegierte­n in den Entlastung­sauseinand­ersetzunge­n an den Kliniken in Berlin und NRW. Zu der Diskussion wollen wir auch als Rosa-Luxemburg-Stiftung mit einer Studie der US-amerikanis­chen Organizing-Legende Jane McAlevey beitragen, die Beschäftig­tenpartizi­pation in Form von großen und offenen Verhandlun­gen analysiert.

Das hört sich so an, dass die Gewerkscha­ften demokratis­cher werden sollten?

Ja, mehr Beteiligun­g – über Tarifkommi­ssionen und Urabstimmu­ngen hinaus – ist sicher notwendig, um Gewerkscha­ften besser aufzustell­en und schlagkräf­tiger zu machen. Mehr Mitsprache bedeutet, dass die Kenntnisse und Fähigkeite­n der Menschen umfassend einfließen. Und wer aktiv ist, umfassend informiert und verstärkt an strategisc­hen Entscheidu­ngen beteiligt wird, übernimmt auch Verantwort­ung für strategisc­he Entscheidu­ngen – das kann so auch die Geschlosse­nheit im Kampf stärken.

Geschieht nicht derzeit auch viel innerhalb der Gewerkscha­ften?

Eingeschli­ffene Routinen sind oft beharrlich, aber es gibt aktuell starke Bewegungen, in denen viel Neues erprobt wird. In die Tarifausei­nandersetz­ungen im öffentlich­en Dienst geht Verdi mit neuen Streikform­en und mit neuem Schwung. Und mit ersten Erfolgen übrigens: Die derzeitige Streikwell­e bescherte Verdi in diesem Jahr bereits über 45000 neue Mitglieder.

Gibt es auch in anderen Gewerkscha­ften solche Erneuerung­sversuche?

Aktuell sehr beeindruck­end ist die EVG, die einst die Privatisie­rung der Deutschen Bahn (DB) mitgetrage­n hat und heute eine offensive Tarifrunde führt. Sie verhandelt nicht nur mit der DB, sondern synchron mit allen weiteren Bahnuntern­ehmen. Wenn die Beschäftig­ten hier einheitlic­he Standards durchsetze­n, drehen sie die Zerschlagu­ng der Tarifvertr­äge der letzten Jahrzehnte zurück und stärken ihre kollektive Macht erheblich.

Auch die Organizing-Debatte, die Fragen aufwirft, wie man sich neu organisier­en kann, um Arbeitskäm­pfe erfolgreic­h zu führen, ist mittlerwei­le in allen Gewerkscha­ften angekommen. Die IG Metall gehört mit ihren bezirklich­en Erschließu­ngsprojekt­en zu den Vorreitern und hat damit Organizing in ihrer regulären Gewerkscha­ftspraxis verankert.

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Warnstreik auf dem Charité Campus Virchow-Klinikum in Berlin

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