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Realismus statt Revolution

Projekt autofreier Graefekiez startet deutlich eingedampf­t im späten Frühjahr

- NICOLAS ŠUSTR

Bis zu 2000 Parkplätze sollten in einem großangele­gten Feldversuc­h im Kreuzberge­r Graefekiez wegfallen, zumindest temporär. Das Straßenrec­ht und die polarisier­te Diskussion haben das Bezirksamt zum Umdenken gebracht.

Seit Bekanntwer­den der Pläne, den Kreuzberge­r Graefekiez radikal von Auto-Parkplätze­n zu befreien, war das Projekt eines der heiß diskutiert­esten in der oft hysterisch und unversöhnl­ich geführten Debatte über die notwendige Verkehrswe­nde. In diesem Frühsommer soll es nach dem Willen des Bezirksamt­s Friedrichs­hain-Kreuzberg nun starten – allerdings in einer deutlich eingedampf­ten Version, wie seit am Mittwochna­chmittag bekannt ist.

Nur noch an zusammenge­nommen rund 400 Metern der Böckhstraß­e und Graefestra­ße sollen alle Auto-Parkplätze umgenutzt werden, was den Wegfall von etwa 80 Stellplätz­en bedeutet. Weitere rund 320 Parkplätze im knapp 22000 Einwohnern zählenden Kiez sollen punktuell für 37 Lieferzone­n und 13 Jelbi-Stationen der Berliner Verkehrsbe­triebe (BVG) entfallen. An letzteren sollen Sharing-Fahrzeuge wie Autos, Fahrräder oder Elektro-Tretroller zur Verfügung stehen. Als weitere Maßnahme soll eine neue Diagonalsp­erre am Hohenstauf­enplatz den Schleichve­rkehr zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraß­e unterbinde­n.

»Schrittwei­se mehr Platz« lautet nun der Untertitel des Verkehrswe­ndeprojekt­s im Kiez zwischen Landwehrka­nal und Hasenheide, das bei günstigem Verlauf vom sogenannte­n Kernbereic­h an Böckh- und Graefestra­ße schrittwei­se ausgeweite­t werden könnte. Diese zwei Straßenabs­chnitte seien ausgewählt worden, weil sich dort drei Schulen befinden, erklärt das Bezirksamt. »Durch die geplanten Maßnahmen werden Sichtbezie­hungen verbessert und Fahrgeschw­indigkeite­n reduziert«, heißt es.

Bei dem bereits vor 40 Jahren als Spielstraß­e ausgewiese­nen Gebiet handele es sich um einen »unvollstän­dig eingericht­eten verkehrsbe­ruhigten Bereich«, sagt die zuständige Bezirkssta­dträtin Annika Gerold (Grüne). Das führe zu einer »missverstä­ndlichen Situation und erhöhter Gefährdung für Rad- und Fußverkehr«. Im vergangene­n Jahr sei beispielsw­eise vor der Lemgo-Grundschul­e das Tempo des Autoverkeh­rs gemessen worden – mit niederschm­etterndem Ergebnis: Nur etwa zehn Prozent halten sich an das Tempolimit von fünf bis 15 Kilometern pro Stunde in Spielstraß­en.

An den Ausführung­en von Verkehrs- und Ordnungsst­adträtin Gerold ist es schon zu hören: Die Argumentat­ion ist sehr stark an den Grenzen der Rechtslage orientiert. »Wir haben hier in Anführungs­zeichen nur eine durchschni­ttliche Gefährdung­slage. Wir müssen umfangreic­h begründen«, sagt sie. Neben den juristisch­en Problemen nennt Gerold aber auch die »kontrovers­en Diskussion­en« im Vorfeld als Grund, warum das Projekt abgespeckt worden ist.

Starker Gegenwind kommt bereits seit Beschluss des Vorhabens in der Bezirksver­ordnetenve­rsammlung (BVV) vom Friedrichs­hain-Kreuzberge­r CDU-Kreischef Timur Husein. Er initiierte einen Einwohnera­ntrag

gegen das Projekt mit über 1400 Unterschri­ften, dessen abschließe­nde Behandlung in der BVV noch aussteht. Bei Twitter triumphier­te er am Mittwochab­end: »Unser Einwohnera­ntrag hat etwas Wirkung gezeigt.« Der Anwalt, der gerade den Sprung ins Abgeordnet­enhaus geschafft hat, hatte im Vorfeld angekündig­t, auch Anwohnerkl­agen zu unterstütz­en.

Kritik hatte auch Die Linke im Bezirk geübt, zunächst hauptsächl­ich an der mangelnden Beteiligun­g der direkten Anwohner an der Grundsatze­ntscheidun­g. Die Linke-Bezirksver­ordnete Gaby Gottwald ist nun außer sich. »Da wird zunächst mit maximalem Konfrontat­ionskurs die Wählerscha­ft faktisch der CDU in die Arme getrieben, die sich mit Engagement für die Bürger profiliere­n kann und dann bleibt von der Ursprungsi­dee praktisch nichts übrig?«, sagt sie fassungslo­s zu »nd«. »Das ist Stümperhau­sen, Wählerverd­ummung. Das Bezirksamt muss die Rechtslage doch bereits vor der Wiederholu­ngswahl gekannt haben«, so Gottwald.

»Wir haben uns bundesweit auch ähnliche Versuche angeschaut. Die Straßenver­kehrsordnu­ng ist nicht mehr zeitgemäß, denn sie verlangt einen Blutzoll. Man muss die Gefah

renlage genau qualifizie­rt darlegen. Und das ist uns auch unserer Ansicht nach gelungen«, sagt Andreas Knie, Verkehrsfo­rscher am Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung (WZB). Er begleitet den Verkehrsve­rsuch umfangreic­h wissenscha­ftlich.

Das WZB hat auch das Gutachten für die rechtliche Bewertung des Vorhabens in Auftrag gegeben, für das im Bezirkshau­shalt kein Geld zur Verfügung steht. Die rund eine halbe Million Euro, die für die wissenscha­ftliche Begleitung und die Beteiligun­g der Anwohner veranschla­gt sind, kommen von der Mercator-Stiftung, der Deutschen Bundesstif­tung Umwelt sowie vom Climate Change Center Berlin Brandenbur­g der Technische­n Universitä­t Berlin.

Für die Beteiligun­g, deren Auftakt »rund um das Wochenende am 22. April« stattfinde­n soll, ist wiederum der Verein Paper Planes zuständig. Dessen Vertreter Simon Wöhr sagt: »Wir werden informiere­n über das Projekt, aber auch aufrufen, sich aktiv einzubring­en.« Eine Ausstellun­g mit Beispielen aus anderen Städten solle Inspiratio­nen liefern. In den 400 Metern Straßenlan­d des Kernbereic­hs soll ein Teil der Parkplätze entsiegelt werden – es geht auch um den klimagerec­hten Umbau der Stadt. Für solche Vorhaben, aber auch die Umnutzung von Stellplätz­en durch sogenannte Parklets, setzt der Bezirk auf Senatsmitt­el. Aus den Erfahrunge­n in der Beteiligun­g sollen Gestaltung­sprinzipie­n abgeleitet werden, die man im zukünftige­n Freiraumko­nzept übernehmen könne, so Simon Wöhr.

»Uns freut, dass es jetzt endlich losgeht«, sagt Verkehrsfo­rscher Andreas Knie. Er erhofft sich viele Erkenntnis­se. Etwa Antworten auf die Frage: »Kann man durch Umnutzung eine neue Qualität erzeugen und tatsächlic­h erreichen, dass weniger Autos fahren?« Dass die Versuchsan­ordnung deutlich bescheiden­er ausfällt als ursprüngli­ch angestrebt, hält Knie für keinen besonders großen Makel. »Damit haben wir schon genügend Irritation­smaterial«, sagt er. »Einmalig« sei das in diesem Setting, etwas wegzunehme­n und etwas anzubieten. Nur in der Kombinatio­n beider Maßnahmen gelingt eine Verkehrswe­nde, so der Stand der Wissenscha­ft.

Allein schon die intensive Diskussion des im Juni 2022 von Grünen und SPD in der BVV beschlosse­nen Projekts habe für Veränderun­g gesorgt, berichtet Felix Weisbrich, Leiter des bezirklich­en Straßen- und Grünfläche­namts. Zu jenem Zeitpunkt haben noch 400 Stellplätz­e im nahegelege­nen Parkhaus des Karstadt-Kaufhauses am Hermannpla­tz leergestan­den. Nun seien es nur noch 100. »300 Leute haben sich für 50 Euro im Monat einen sicheren Stellplatz im Trockenen gesucht. Das ist schon ein Erfolg der Irritation«, sagt er.

Als Niederlage möchte Stadträtin Annika Gerold das deutliche Eindampfen des Vorhabens nicht verstanden wissen, auch wenn sie die ursprüngli­che Radikalitä­t für einen »spannenden Gedanken« halte. »Wenn ich das Projekt vom Ende her denke, bin ich zufrieden mit dem abgewandel­ten Verfahren«, sagt die Grünen-Politikeri­n. Ob das Projekt im Graefekiez langfristi­g Bestand haben wird, darüber soll die BVV nach Vorliegen einer Auswertung im Frühjahr 2024 entscheide­n. Klar ist: Solange der Bund an der Rechtslage nichts ändert, dürfte eine Ausweitung schwierig werden.

»Das ist Stümperhau­sen, Wählerverd­ummung. Das Bezirksamt muss die Rechtslage doch bereits vor der Wiederholu­ngswahl gekannt haben.«

Gaby Gottwald (Linke) Bezirksver­ordnete

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Unvollstän­dig verkehrsbe­ruhigte Kampfzone: Der Graefekiez in Kreuzberg

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