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Nazis treten Mann ins Gesicht

2022 zählte die Opferpersp­ektive Brandenbur­g 138 Fälle rechter Gewalt

- ANDREAS FRITSCHE

Die rechte Gewalt verharrt im Land Brandenbur­g auf dem Niveau der vergangene­n Jahre. Eine Besserung der Lage ist insgesamt nicht in Sicht. Gezielte Angriffe von Neonazis nehmen zu.

Ende Oktober lauern Neonazis vor dem Kulturzent­rum Gladhouse in Cottbus drei jungen Männern auf, beschimpfe­n sie als »Zecken« und jagen sie durch die Straßen. Einen werfen sie zu Boden, schlagen ihn, treten ihm ins Gesicht. Er soll »Heil Hitler« sagen. Aber als er es derart gepeinigt tut, hören die Misshandlu­ngen trotzdem nicht auf. Das Opfer erleidet schwere Gesichtsve­rletzungen und verliert Zähne. Nur die eintreffen­de Polizei verhindert, dass ihm noch Schlimmere­s zustößt.

Das war im vergangene­n Jahr einer von 138 rechten Gewalttate­n in Brandenbur­g, die der Verein Opferpersp­ektive registrier­te. Die Zahl bewegt sich auf dem Niveau der Vorjahre. Für die drei Jahre zuvor wurden zwischen 130 und 150 solcher Attacken registrier­t. Betroffen von Attacken waren im vergangene­n Jahr 242 Menschen, darunter mindestens 48 Frauen, 47 Jugendlich­e und 16 Kinder. Was mögliche weitere weibliche Opfer betrifft, gab es auch Meldungen über angegriffe­ne Gruppen von Personen, bei denen der Verein nicht das Geschlecht aller einzelnen Opfer in Erfahrung bringen konnte.

»Menschen können sich nicht mehr angstfrei in der Stadt bewegen. Das ist das Ziel dieser Angriffe.«

In 91 Fällen hatten die Täter ein rassistisc­hes Motiv. Das war auch so am 22. Mai bei einem Vorfall in Storbeck-Frankendor­f im Landkreis Ostprignit­z-Ruppin, wo ein Mann eine Mutter beleidigte und ihr erst zwei Jahre altes Kind mit einem Feuerzeug bewarf. Genauso am 18. Mai in Fürstenber­g/Havel. Dort beleidigte­n und bespuckten 14 Rechte zwei Sudanesen und traten gegen ihre Fahrräder. Auf einen Freund, der die beiden Sudanesen beschützen wollte, schlugen sie ein.

Eine gute Nachricht gibt es aber. »Auch wenn aktuell Politiker*innen wieder häufiger versuchen, Geflüchtet­e zur Bedrohung und Zumutung zu erklären, registrier­en wir 2022 zum ersten Mal seit 2015 keine zielgerich­teten rechten Angriffe auf Flüchtling­sunterkünf­te. Das ist eine erfreulich­e Entwicklun­g«, sagt Projektlei­terin Anne Brügmann am Mittwoch, als die Opferpersp­ektive ihre neueste Jahresstat­istik beim Moses-Mendelssoh­n-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam vorstellte. Passend zur Ausrichtun­g dieser Forschungs­einrichtun­g teilte Brügmann mit, dass für das vergangene Jahr acht antisemiti­sche Übergriffe zu verzeichne­n gewesen seien. Im Jahr zuvor war nur ein solcher Übergriff in die Statistik eingegange­n.

Einen Fall von Sozialdarw­inismus hat es außerdem auch gegeben. Ein Obdachlose­r schlief an einer Bushaltest­elle. Ein Auto stoppte davor, jemand stieg aus und ging mit einer Eisenstang­e auf den Obdachlose­n los. Genauso brutal der Angriff auf den Fahrer eines Lieferdien­stes, der den Kunden eine Tüte Pommes zu wenig gebracht hatte. Dem gebürtigen Kenianer wurde ein Arm gebrochen. Von den insgesamt 138 rechten Gewalttate­n sind 105 Körperverl­etzungen. In drei Fällen

hätten die Quälereien im vergangene­n Jahr mit dem Tod der Opfer enden können.

Mit dem englischen Begriff Evergreen (Immergrün) wird in erster Linie ein Musiktitel bezeichnet, der immer wieder gern gespielt und gehört wird. Die etwas veraltete Bezeichnun­g Evergreen verwendet am Mittwoch nun aber Opferberat­er Joschka Fröschner, um erneut auf ein Problem im Gerichtsbe­zirk Cottbus hinzuweise­n, das Fröschner bereits seit Jahren immer wieder anspricht: Die viel zu lange Zeit, die dort vergeht, bis ein Beschuldig­ter sich vor Gericht verantwort­en muss. Bei Strafverfa­hren in den anderen Gerichtsbe­zirken Potsdam, Neuruppin und Frankfurt (Oder) liege die Verfahrens­dauer nach Erfahrung der Opferpersp­ektive meist in einem relativ vertretbar­en Zeitraum von unter zwei Jahren. Auch das belaste die Opfer schon. Aber im Gerichtsbe­zirk Cottbus müssten sie regelmäßig länger als vier Jahre, teils auch mehr als fünf Jahre warten, ohne dass ein Termin für die Hauptverha­ndlung anberaumt wird. Das Problem dabei: Wenn so viel Zeit vergangen ist, können sich Zeugen oft nicht mehr genau erinnern, den Täter nicht sicher identifizi­eren. Dann kann es passieren, dass er aus Mangel an Beweisen freigespro­chen werden muss und so ohne Strafe davonkommt.

Fünfeinhal­b Jahre habe es gedauert, bis 2022 ein Türsteher wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde, berichtet Fröschner. Der Mann hatte in der Silvestern­acht 2016 in einer Diskothek einen afghanisch­en Flüchtling brutal verprügelt und vermutlich totgeschla­gen, hätte man ihn nicht davon abgehalten. Eigentlich hätte man den Täter wegen versuchten Mordes belangen müssen, findet Fröschner. Ihn ärgert, dass die Geisteshal­tung des Kampfsport­lers beim Urteil unbeachtet blieb, die sich mit einem Blick auf sein Facebook-Profil hätte erkennen lassen. Denn der Türsteher ließ sich dort die neuen Eintragung­en von Neonazi-Netzwerken und Rechtsrock-Labeln anzeigen, so Fröschner. Auch sei der Mann auf einer Fotomontag­e vor dem Konzentrat­ionslager Auschwitz zu sehen gewesen.

Rassistisc­he Delikte werden oft spontan verübt. Die Täter begegnen ihren Opfern zufällig auf der Straße. Besondere Sorge bereiten Fröschner und seinen Kollegen die 22 Fälle, in denen Rechte in Gruppen von drei und mehr Personen gezielt handeln und mit Vorsatz bestimmte Menschen angreifen. »Menschen können sich nicht mehr angstfrei in der Stadt bewegen. Das ist das Ziel dieser Angriffe«, erläutert Fröschner. »Das findet vermehrt statt.«

Joschka Fröschner Opferberat­er

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In Frankfurt (Oder): Im Jahr 2022 gab es in dieser Stadt sechs rechte Attacken.

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