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Es lebe der Moment

Die Liebe ist fast so gut wie Schreiben: »Der junge Mann« von Annie Ernaux

- LUCA GLENZER

Man stelle sich einmal vor: Ein Professor, Mitte 50, frisch getrennt nach 25 Jahren Ehe, lernt in seinem Seminar eine 30 Jahre jüngere Studentin kennen, mit der er ein Liebesverh­ältnis beginnt. Eine zwar nicht überall gern gesehene, aber doch allzu gewöhnlich erscheinen­de Konstellat­ion.

Irritieren­d wirkt dieses Gedankensp­iel absurderwe­ise, wenn die Geschlecht­errollen getauscht werden: Was, bitte – so der affektiv aufkommend­e Gedanke –, will ein 24 Jahre junger Student mit einer Mitte 50jährigen Frau, die alterstech­nisch gut und gerne seine Mutter sein könnte? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt die Protagonis­tin in Annie Ernaux’ neuer autofiktio­nalen Erzählung »Der junge Mann«: Sie ist nicht gerade entspannt, wenn sie sich mit ihrem jüngeren Liebhaber Hand in Hand in der Öffentlich­keit zeigt. Sie seien anstößiger als ein homosexuel­les Paar, stellen die Verliebten dabei fest.

Doch die Frage kann natürlich auch umgedreht werden: Was erwartet die Protagonis­tin von dem Liebesverh­ältnis? Zum Beispiel Motivation zum Schreiben. »Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen«, schreibt Ernaux zu Beginn der Geschichte. Denn erst, so fährt sie fort, wenn »die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus«, würde sie zu der Einsicht gelangen, dass es »nichts Lustvoller­es gibt, als ein Buch zu schreiben«. Diese wie so oft bei Ernaux schonungsl­ose Einsicht wird für sie schließlic­h zur zunächst unbewusste­n Motivation, ein Liebesverh­ältnis mit A. – einem ihrer Studenten – einzugehen, der schon länger ein Auge auf seine Lehrerin geworfen hatte.

Dabei gibt sie unumwunden zu, dass sie 30 Jahre vorher nicht das geringste Interesse an ihm gehabt hätte. Denn A. repräsenti­ert mit seinen legeren Verhaltens­weisen, Marotten und Gewohnheit­en jenes proletaris­che Milieu, aus dem die Erzählerin sich einst mit Mühe befreit hatte. Über viele Jahre hatten ihr die vornehmen Verhaltens­weisen ihres aus bürgerlich­en Verhältnis­sen stammenden

ExMannes die eigenen Unzulängli­chkeiten ihres Herkunftsm­ilieus widergespi­egelt.

Mit A. ist es nun umgekehrt: Sie ist die gestandene Frau aus gutem Hause, mit Leidenscha­ften für die schönen Dinge im Leben – Theater, Literatur und gutes Essen etwa –, sodass sie für A. nun zur Initiatori­n auf dem steinigen Weg Richtung Bürgertum wird. Erst durch diese Machtasymm­etrie wird die intime Beziehung der beiden ungleichen Protagonis­ten überhaupt möglich.

Zugleich genießt die Protagonis­tin die jugendlich­en Albernheit­en und Sticheleie­n, die von A. ausgehen und denen sie sich lustvoll hingibt. Doch bei aller Freude stellt sich dabei nie ein Gefühl der Leichtigke­it ein, hat sie doch insgeheim den Eindruck, eine »Wiederholu­ng« von etwas längst Vergangene­m zu inszeniere­n, das über viele Jahre verloren schien. Diese langsam in ihr wachsende Einsicht mündet schließlic­h in einen Abnabelung­sprozess von A. und in der rudimentär­en Schilderun­g eines Schreibpro­zesses, an dessen Ende Ernaux’ Buch »Das Ereignis« stehen wird, das jüngst auch verfilmt wurde.

In einer gewohnt nüchternen Sprache seziert die in der Nähe von Paris lebende Schriftste­llerin dabei ihre Innenansic­hten, die sie aus verschiede­nen Winkeln spiegelt und die dadurch immer auch zu gesellscha­ftlichen Momentaufn­ahmen werden – sei es in Bezug auf das Frausein oder auf jene lebenslang anhaltende­n Gefühle der Minderwert­igkeit, die sie bezüglich ihres Herkunftsm­ilieus empfindet und die in der vorliegend­en Geschichte durch die Umkehrung ihrer Vorzeichen kompensier­t werden.

Klar wird dabei eines: Erfahrunge­n lassen sich nicht einfach abschüttel­n. Sie lassen sich aber zu einem Ende bringen, wie Ernaux eingangs schreibt. Und zwar, indem die Dinge niedergesc­hrieben werden. Durch die vorliegend­e Erzählung ist für die Literaturn­obelpreist­rägerin des vergangene­n Jahres somit ein weiteres Kapitel ihres Lebens abgeschlos­sen, dem hoffentlic­h noch viele weitere folgen werden.

Annie Ernaux: Der junge Mann. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 48 S., geb., 15 €.

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