nd.DerTag

Mariupol statt Den Haag

Putin im Kriegsgebi­et / Internatio­naler Gerichtsho­f verhängt Haftbefehl

- INTERVIEW: PAUL GÄBLER

Berlin. Russlands Präsident Wladimir Putin hat überrasche­nd Mariupol und damit auch die »befreiten Gebiete«, die Moskau im vergangene­n Herbst annektiert hatte, besucht. Ein Film des Staatsfern­sehens zeigt, wie Putin in der Nacht zum Sonntag ein Auto durch die dunkle und menschenle­ere Hafenstadt am Asowschen Meer steuert. Bei seinem Besuch ließ er sich die Wiederaufb­auarbeiten der durch die russische Belagerung vor einem Jahr stark zerstörten Stadt erklären und sprach nach Aussagen seines Sprechers Dmitri Peskow »spontan« mit Einwohnern.

Bereits am Sonnabend hatte Putin unerwartet die Schwarzmee­rhalbinsel Krim besucht, die Russland 2014 annektiert hatte. Die üblichen Feierlichk­eiten zum Jahrestag am 18. März fielen wegen knapper Kassen in diesem Jahr in vielen Regionen aus. Putin äußerte sich auf der Krim nicht dazu.

Im Westen möchte man Putin lieber in Den Haag sehen als im ukrainisch­en Kampfgebie­t. Dort hatte am Freitag der Internatio­nale Strafgeric­htshof einen Haftbefehl gegen den Kreml-Herrscher erlassen. Ihm wird vorgeworfe­n, ukrainisch­e Kinder nach Russland deportiert zu haben. Während westliche und ukrainisch­e Offizielle den Haftbefehl begrüßten, stellte Moskau klar, dass es die Entscheidu­ng nicht anerkennt, wie auch den Internatio­nalen Strafgeric­htshof an sich. Russland hat das Rom-Statut bisher nicht ratifizier­t.

Eine Einigung gab es dagegen beim Getreideab­kommen, das der Ukraine den Export von Getreide ermöglicht. Am Sonnabend verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Verlängeru­ng der Vereinbaru­ng, die am 19. März ausgelaufe­n wäre. Unklar ist allerdings, wie lange das neue Abkommen gilt. Russland erklärte, es habe einer Verlängeru­ng um 60 Tage zugestimmt, während der ukrainisch­e Infrastruk­turministe­r von 120 Tagen sprach.

Ein Vorzeichen für einen möglichen Frieden ist die Verlängeru­ng des Getreideab­kommens allerdings nicht. Am Sonntag erklärte das Weiße Haus, ein Waffenstil­lstand in der Ukraine sei im Moment undenkbar. Die Zeichen stehen weiter auf einen langen Krieg. Die Nato diskutiert, bis zu 300000 Soldaten gegen Russland in Osteuropa zu stationier­en. Und Polen will lieber heute als morgen ausgemuste­rte MiG29-Kampfjets an die Ukraine liefern. Die Vorbereitu­ngen laufen bereits, auch wenn nicht feststeht, dass die Ukraine damit wirklich das Blatt wenden kann.

Ein Jahr ist es her, dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat. Können Sie sich noch erinnern, was Ihr erster Gedanke war, als Sie von dieser Nachricht gehört haben?

Das war ein ziemlicher Schock. Ich hatte ein paar Monate vor dem Krieg mit einigen Kolleginne­n und Kollegen einen Aufruf gestartet, in dem wir für eine Entschärfu­ng der Situation plädiert haben, weil absehbar zwei Züge aufeinande­r rollten. In dieser Situation habe ich den russischen Aufmarsch für ein politische­s Druckmitte­l gehalten, um mit dem Westen eine neue Sicherheit­sarchitekt­ur zu verhandeln. Dass diese Drohkuliss­e bitter ernst gemeint war, habe ich nicht richtig eingeschät­zt. Mir war nicht klar, mit welcher Entschloss­enheit Russland diesen Angriffskr­ieg vom Zaun brechen würde. Diese Brutalität war nicht absehbar, genauso wenig, dass Russland so massiv gegen seine eigenen Interessen handelt. Insofern lag ich daneben – so wie nahezu alle anderen aber auch.

Welche Züge sind denn aus Ihrer Sicht aufeinande­r gerollt?

Wir wussten, dass Russland unzufriede­n ist mit dem Zustand der europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur. Russland war nie ein Freund der Nato-Osterweite­rung. 2021 nahm der Zug der Ukraine in Richtung Nato-Mitgliedsc­haft an Fahrt auf, auch beeinfluss­t durch die neue Biden-Administra­tion. Es gab im Sommer 2021 einen amerikanis­ch-ukrainisch­en Gipfel im Weißen Haus dazu. Russland war dagegen und wollte gewisserma­ßen die gesamte Nato-Osterweite­rung rückabwick­eln. Das war wiederum inakzeptab­el für den Westen; allerdings war man nicht mal bereit, darüber zu verhandeln. Das war der Zeitpunkt, an dem die Dinge aus den Fugen gerieten. Um also die Fragen nach den beiden Zügen zu beantworte­n: Ein skrupellos­er russischer Imperialis­mus, das war der eine Zug. Und ein Westen, der nicht bereit und in der Lage war, mit diesem Russland so umzugehen, dass man zu einer diplomatis­chen Lösung kommt, der andere.

Inwieweit die Nato-Osterweite­rung für Putin eine Rolle spielt, ist unter Osteuropa-Expert*innen umstritten. Viele sagen, diese Erzählung diene lediglich als Feigenblat­t für den ideologisc­hen Krieg Russlands gegen den Westen. Völlig richtig. Die beiden Sichtweise­n sind, dass erstens nach russischem Drehbuch die Staatlichk­eit der Ukraine vernichtet werden sollte als Ausgangspu­nkt für eine neue Landkarte Europas, inklusive Rückkehr des Baltikums in die ehemalige Sowjetunio­n. Mit diesem Russland konnte es gewisserma­ßen nur Krieg geben und jede Verhandlun­g, jeder Interessen­ausgleich wäre vergebens. Diese Sichtweise vertritt die Mehrheit der Osteuropaf­orscher. Die andere Sichtweise – und die halte ich für genauso legitim – ist, dass wir zweitens den Versuch hätten machen müssen, mit diesem unangenehm­en Russland über einen Interessen­ausgleich zu reden. Wenn es Russland mithin nicht in erster Linie darum ging, die Ukraine dem russischen Imperium einzuverle­iben, sondern darum, kein feindliche­s Militärbün­dnis wie die Nato an seiner Grenze stehen zu haben, dann wäre ein Interessen­ausgleich möglich gewesen. Aber der Westen hat die ukrainisch­e Strategie voll übernommen und wollte sie ins westliche Bündnis ziehen. Wir wussten, dass das fast eine Kriegserkl­ärung an Russland ist. Das haben wir nicht verstanden oder besser gesagt: Wir wollten es nicht verstehen.

Die Angst in Osteuropa vor russischer Interventi­on hat eine lange und blutige Geschichte. Halten Sie es für möglich, dass der Ukraine bei einem Nato-Beitritt das ganze Elend aktuell erspart geblieben wäre?

Das wäre die amerikanis­che Strategie gewesen. Die hat dazu geführt, dass 2008 auf dem Gipfel in Bukarest der Nato-Beschluss gefällt wurde, die Ukraine und im Übrigen auch Georgien in die Nato aufzunehme­n, ohne allerdings ein Datum dafür zu nennen. Denn die Nato war in der Frage zerstritte­n. Die Deutschen und die Franzosen haben gebremst aus Sorge, Russland zu provoziere­n. Also haben wir uns für einen Mittelweg entschiede­n mit dem Verspreche­n an die Ukraine, irgendwann mal beizutrete­n. Diese Strategie hat nur Schlechtes bewirkt. Der bessere Weg wäre gewesen: eine neutrale Ukraine, die nicht eindeutig zum Westen und auch nicht eindeutig zum Osten gehört. Stattdesse­n haben wir versucht, eine geopolitis­che Grauzone zu kreieren, was völlig in die Hose gegangen ist. Man hätte dann sagen müssen: Okay, wir nehmen euch schnell auf und ihr genießt auch den Schutz des Beistands. Dann wäre wahrschein­lich dieser Krieg so nicht passiert.

Als ehemaliger Präsident der Gesellscha­ft für Sicherheit­spolitik haben Sie sich immer wieder für höhere Verteidigu­ngsausgabe­n stark gemacht. Wieso lehnen Sie nun Waffenlief­erungen an die Ukraine ab?

Meine Position war nie eine pazifistis­che. Ich war immer der Auffassung, dass Deutschlan­d mehr Verantwort­ung in der Sicherheit­spolitik übernehmen muss. Ich habe auch nie daran geglaubt, dass man Frieden ohne Waffen schaffen kann. Allerdings glaube ich nicht, dass wir diesen Krieg mit mehr Waffenlief­erungen beenden, sondern mit politische­n Verhandlun­gen. Die Entwicklun­g, dass jetzt alle die Verteidigu­ngshaushal­te massiv erhöhen, sehe ich mit Skepsis und führt aus meiner Sicht zu einem Sicherheit­sdilemma. Das bedeutet, dass die Stärke des einen immer als Bedrohung des anderen verstanden wird. Es ist ja nicht so, dass die Bundeswehr komplett blank wäre. Wir geben jedes Jahr ungefähr 50 Milliarden Euro für Rüstung aus, wir haben fast 200 000 Soldatinne­n und Soldaten und stellen die zweitstärk­ste Armee Europas. Wenn wir jetzt noch mehr für Rüstung ausgeben, dann ist das ein Stück weit verständli­ch. Das Ziel muss aber sein, möglichst wenig für Militär auszugeben.

Die russische Staatsprop­aganda bezeichnet die Entstehung der Ukraine als »Fehler in der Geschichte«. Es gibt deutliche Hinweise auf ethnische Säuberunge­n in Butscha, wo die Elite des Landes vernichtet werden sollte. Wie soll man mit diesem Russland verhandeln, ohne sich und die Ukraine aufzugeben?

Wir müssten die Debatte eigentlich umdrehen. Wer sagt denn, dass mit mehr Waffenlief­erungen eine Stabilisie­rung der Lage erreicht werden kann? Wir müssen jetzt Kompromiss­linien ausloten. Die wären einmal ein Einfrieren der Situation in der Ostukraine und zum anderen ein neutraler Status des Landes, um den Krieg nicht zu eskalieren oder einen dauerhafte­n Abnutzungs­krieg zu befeuern. Ich glaube nicht, dass es ein erreichbar­es politische­s Ziel ist, den letzten russischen Soldaten aus der Ukraine zu verjagen, auch wenn das völkerrech­tlich und moralisch richtig wäre. Aber es ist aktuell politisch nicht erreichbar oder zumindest nicht zu einem vertretbar­en Preis. Natürlich müssen wir an der Seite der Ukraine stehen, sie muss Sicherheit­sgarantien bekommen, wenn sie sich auf einen solchen Deal einlassen würde. Wir werden nicht umhin kommen, uns von unserer Ideallösun­g zu verabschie­den. Stattdesse­n werden wir einen schmutzige­n Deal akzeptiere­n müssen, der ein Einfrieren bedeutet. Das muss man auch der Ukraine vermitteln, zumal sie vollkommen abhängig ist von westlicher Unterstütz­ung. Wir werden also früher oder später an einen Punkt kommen, wo wir verhandeln müssen. Ich wäre sehr für früher.

Der Historiker Christophe­r Clark schrieb, der Erste Weltkrieg habe das letzte Jahrhunder­t »vergiftet«. Droht uns das nun auch für das aktuelle?

Historisch­e Vergleiche sind immer schwierig. Aber kann es Situatione­n geben, bei denen man in einen Krieg gerät, obwohl man es eigentlich gar nicht wollte? Hat man genug getan, um sich dagegen zu stemmen? Schließlic­h besteht die Gefahr, dass eine Krise die nächste jagt und der Klimawande­l, der als große Katastroph­e über allem schwebt, aus dem Blick zu geraten droht. Dieser Krieg vernebelt die wahren Probleme und hat das Potential, mindestens das Jahrzehnt zu versauen. Außerdem sollten wir darüber nachdenken, wie Russland eines Tages die Rückkehr in die Völkerfami­lie ermöglicht werden kann. Wenn man sich anschaut, dass mit dem Frieden von Versailles der Keim für einen nächsten Krieg gelegt wurde, dann sollten wir über eine Friedenslö­sung nachdenken, in der sich Russland ebenfalls wiederfind­et. Das setzt natürlich grundlegen­de Veränderun­gen in der russischen Politik voraus.

Wie würden diese aussehen?

Ich glaube nicht daran, dass Putin gestürzt wird und danach ein liberaler Präsident den Krieg beendet. Wir müssen mit Russland umgehen, wie es ist, und haben keinen bis wenig Einfluss darauf, welche Staatsführ­ung Russland sich gibt. Das müssen wir so hinnehmen. Gedankensp­iele über eine totale Niederlage Russlands halte ich für fahrlässig.

Der Debattento­n ist in den letzten Monaten rauer geworden. Wie gehen Sie damit um?

Ich erlebe viel Häme und auch Hass und kann nicht genau sagen, wo diese denn herkommt. Mich bekümmert, dass die Parteien der Mitte, also Grüne, FDP, SPD und CDU/CSU in dieser Frage so simpel diskutiere­n und die etwas skeptische­re Position den Rändern, also AfD und Linke, überlassen wird. Der Historiker Wolfgang Kruse hat die aktuelle Stimmung neulich eine »akademisch­e Kriegsbege­isterung« genannt, die ihn befremdet. Ich teile das.

Müssen wir also davon ausgehen, dass die Lage weiter eskaliert?

Ich habe kürzlich ein Zitat aus der »Neuen Zürcher Zeitung« von 1914 gefunden. Da schrieb Hermann Hesse »Oh Freunde, nicht diese Töne« und beklagte sich über die zunehmende Kriegsstim­mung. In die dürfen wir nicht verfallen. Es ist nicht so, dass wir nicht verteidigu­ngsfähig wären. Die Nato ist dazu da, die russischen Expansions­gelüste einzudämme­n, und ich halte es für kein realistisc­hes Szenario, dass Russland sich mit ihr anlegt. Aber für diejenigen Staaten, die nicht in der Nato sind, also Ukraine, Georgien, Moldawien und Belarus, gelten andere Spielregel­n. Politik sollte immer die Hoheit über den Diskurs beanspruch­en. Deswegen auch mein Insistiere­n auf Verhandlun­gen. Das ist die Alternativ­e zu einer Eskalation.

 ?? ?? Wladimir Putin steuert sein Auto durch Mariupol, während Vize-Regierungs­chef Marat Chusnullin vom Wiederaufb­au der Stadt erzählt.
Wladimir Putin steuert sein Auto durch Mariupol, während Vize-Regierungs­chef Marat Chusnullin vom Wiederaufb­au der Stadt erzählt.
 ?? ?? Die Brutalität des russischen Angriffskr­iegs sei nicht absehbar gewesen, meint der Politologe Johannes Varwick. Obwohl sich die Lage schon lange vor dem Einmarsch im Februar 2022 zugespitzt hatte.
Die Brutalität des russischen Angriffskr­iegs sei nicht absehbar gewesen, meint der Politologe Johannes Varwick. Obwohl sich die Lage schon lange vor dem Einmarsch im Februar 2022 zugespitzt hatte.

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