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Ein fragiler Staat

Wie das von den USA etablierte Proporzsys­tem den Aufbau eines stabilen Irak torpediert­e

- FERHAD SEYDER

Auch 20 Jahre nach dem Angriffskr­ieg der USA und ihrer Verbündete­n auf den Irak bleibt das Land weiterhin fragil – politisch, wirtschaft­lich, sozial. Leichtfert­ige oder falsche Entscheidu­ngen durch die Besatzungs­macht USA haben entscheide­nd dazu beigetrage­n. Der Ölreichtum erweist sich zugleich als Fluch und Segen.

Die Hälfte der heutigen irakischen Bevölkerun­g war noch nicht auf der Welt, als US-Truppen 2003 Saddam Hussein stürzten. Den USA gelang es aber nicht, im Irak Stabilität oder gar eine funktionie­rende Demokratie zu etablieren.

Die von den USA am 20. März 2003 begonnene und angeführte Militärint­ervention führte zum raschen Zusammenbr­uch des Regimes von Saddam Hussein und der regierende­n Baath-Partei. Der Irak war bereits stark geschwächt nach mehreren Kriegen, internen gewaltförm­igen Konflikten und jahrelange­n Sanktionen. Die Kasernen der irakischen Armee waren nach dem Einrücken der amerikanis­chen Soldaten leer. Marodieren­de Banden und irakisch-schiitisch­e Milizen, die aus dem Iran einrückten, plünderten die Waffendepo­ts unter den Augen der US-Soldaten. Der bürokratis­che Apparat in allen staatliche­n Institutio­nen kollabiert­e in wenigen Tagen.

Die Resolution 1483 des UN-Sicherheit­srates vom 22. Mai 2003 forderte die USA und ihre Verbündete­n als Besatzungs­mächte auf, die Regeln des Völkerrech­ts einzuhalte­n, den Wiederaufb­au des Irak zu unterstütz­en, den Aufbau eines demokratis­chen Staates einzuleite­n und die Bürger des Staates »ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigk­eit, der Religion oder des Geschlecht­s« beim Aufbau zu beteiligen; außerdem sollten die Verantwort­lichen von Gräueltate­n unter dem alten Regime zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Im Mai 2003 entsandte die US-Regierung den Botschafte­r Paul Bremer nach Bagdad. Sein Auftrag: die Abwicklung beziehungs­weise das Verbot von Institutio­nen. Eine Entbaathis­ierung des Staatsappa­rats sollte die Rückkehr des alten Systems verhindern, ein auszuarbei­tender Masterplan den Neuaufbau des Staates einleiten. Die US-Behörde im Irak hielt sich formal an die Bestimmung­en der Resolution 1483 des UN-Sicherheit­srats, einige Entscheidu­ngen waren von der Resolution jedoch nicht vorgesehen. Dazu gehörten die Auflösung der irakischen Armee und der Sicherheit­sorgane sowie die Säuberung der staatliche­n Institutio­nen von Baath-Funktonäre­n. Weitere Schritte waren die Vorlage einer Übergangsv­erfassung und die Berufung eines 25-köpfigen irakischen Regierungs­rats.

Von Anbeginn plädierten die USA gemäß der UN-Resolution beim Aufbau der Institutio­nen für die Beteiligun­g aller Gruppen. Nachdem Paul Bremer seine Aufgabe erledigt hatte und 2005 die erste irakische Regierung gebildet war, entschied sich eine Mehrheit in der repräsenta­tiven Institutio­n deutlich für ein Proporzsys­tem und für einen Konsens bei der Regierungs­bildung. Die Schiiten hatten als Bevölkerun­gsmehrheit ihren Anspruch auf Schlüsselp­ositionen nie aufgegeben.

Der Vorwurf der arabischen Sunniten, dass der Irak so in Konfession­en und Ethnien aufgespalt­en würde, ist nicht ganz unberechti­gt. Tatsächlic­h wollten die opposition­ellen Kräfte vor 2003 die von den Sunniten dominierte Ordnung zugunsten der Vielfalt der irakischen Bevölkerun­g ändern. Kaum hatten die USA den Irak besetzt, formierte sich ein Aufstand gegen die Besatzung und gegen die Entmachtun­g der sunnitisch­en Minderheit.

Getragen wurde der Aufstand von Al-Qaida und den Resten der Baath-Partei. Die USA stützten sich auf die schiitisch­e Mehrheit und auf die loyalen Kurden, deren autonome Region seit 1991 auf den Schutz der USA angewiesen war. Hier liegen die Wurzeln des »ethnosecta­rian apportionm­ent«, eines Systems ethnisch-konfession­eller Aufteilung, wie das schwedisch­e Friedensfo­rschungsin­stitut Sipri in einem Bericht über die Lage im Irak feststellt­e. Der irakische Widerstand von 2003 bis 2007 setzte sich effektiv zwei Ziele: Beschleuni­gung des Abzugs der US-amerikanis­chen Truppen aus dem Irak und Absetzung der neuen irakischen Elite.

Die im sogenannte­n sunnitisch­en Dreieck nördlich von Bagdad aktive Widerstand­sbewegung bereitete der Besatzungs­macht große Schwierigk­eiten. Die USA mussten befürchten, dass es auch in den schiitisch­en Wohngebiet­en zur Formierung einer Widerstand­sbewegung kommen konnte. Vor allem der schiitisch­e Geistliche Muktada AlSadr, Anführer der Al-Mahdi-Armee, machte damals seinen Widerstand gegen die Besatzungs­macht deutlich und lehnte eine politische Beteiligun­g ab – im Gegensatz zu den anderen schiitisch­en Kräften. In dieser prekären Situation wandte sich Paul Bremer an den höchsten schiitisch­en Geistliche­n im Irak: Ayatollah Ali Al-Sistani. Dieser vereinbart­e mit den Amerikaner­n einen Modus Operandi: Die USA beschleuni­gen die Übergabe der Macht an die Iraker – einschließ­lich einer neuen Verfassung, eines baldigen Termins für Wahlen und des Truppenabz­ugs.

Es war absehbar, dass die Schiiten bei den ersten freien Wahlen die Mehrheit im irakischen Parlament bilden würden. Aber weder die Resolution des UN-Sicherheit­srats noch die USA wollten explizit ein Proporzsys­tem. Der Aufstand der Sunniten zwang die USA, das Proporzsys­tem zu akzeptiere­n. Die wichtigste­n Vertreter der ethnisch-konfession­ellen Gruppen einigten sich auf eine Regelung, die in der Verfassung nicht fixiert ist: Das Parlament, die Regierung, die staatliche­n Ämter sollten nach demografis­cher Stärke verteilt werden.

Das Proporzsys­tem ist der Hauptgrund der Dysfunktio­nalität des irakischen Staates und seines fragilen Zustands. Das zeigen die Krisen: Als einige Tausend Anhänger des Islamische­n Staates (IS) die zweitgrößt­e Stadt Mosul eroberten, wurde bekannt, dass die korrupte Regierung von Nuri Al-Maliki (Regierungs­chef von 2006 bis 2014) einen beachtlich­en Teil der enormen Geldsummen, die seit 2005 für den Wiederaufb­au bestimmt gewesen waren, veruntreut hatte. Die drei Divisionen, die in Mosul stationier­t waren, leisteten keinen Widerstand gegen die Dschihadis­ten. Später wurde publik, dass die angegebene Truppenstä­rke der irakischen Armee nicht stimmte und die Bewaffnung sehr dürftig war. Bei anderen Institutio­nen des Staates

– Schulen, Krankenhäu­ser, Straßen – war es nicht anders.

Das ethnisch-konfession­elle System führte zu Korruption durch Personen und Gruppen, die kraft ihrer Zugehörigk­eit strategisc­he Posten in Anspruch nahmen. Die Erdölerlös­e wurden nach Kriterien der ethnisch-konfession­ellen Zugehörigk­eit und des Klientelis­mus verteilt. Es wundert daher nicht, dass sich die Korruption im neuen Irak schnell ausbreitet­e. Nach Angaben des amerikanis­chen TV-Senders CBS wurden 750 Milliarden US-Dollar veruntreut, vermutlich war es eine noch größere Summe.

Die Fragilität machte den irakischen Staat empfänglic­h für die Akzeptanz von Partikular­interessen gesellscha­ftlicher Gruppen. So wandte sich die Regierung 2014 nach dem Angriff des Islamische­n Staats an den obersten schiitisch­en Geistliche­n Al-Sistani und bat ihn um Hilfe. Dieser verabschie­dete ein Gutachten (Fatwa) an die Gläubigen und forderte sie zur Gründung einer Armee gegen den IS auf. So entstand die Truppe der Volksmobil­isierung. Der Staat stimmte also einer Einschränk­ung seiner Souveränit­ät zu: Eine Person, Al-Sistani, die keinen legalen politische­n Status besitzt, verordnet die Gründung bewaffnete­r Milizen, und der Staat verzichtet bewusst auf das Gewaltmono­pol.

Auch der Aufstand der Iraker gegen Korruption und Misswirtsc­haft (2019 bis 2021) sowie gegen die politische Abhängigke­it vom Iran hat ihre Ursache in den Krisen, die sich seit Bildung der ersten irakischen Regierung 2005 entwickelt haben. Die Regierung ließ es zu, dass die Truppen der Volksmobil­isierung den Widerstand der Bevölkerun­g gegen Korruption, Misswirtsc­haft und das Proporzsys­tem unterdrück­ten.

Mit Zustimmung der USA entwickelt­e sich aus dem Irak, einem der reichsten Staaten des Mittleren Osten, ein fragiler Staat, basierend auf einem ethnisch-religiösen System und Ämterpatro­nage. Der Machtwechs­el in den USA veränderte deren Strategie kaum. Präsident Barack Obama gab dem iranischen Atomprogra­mm die Priorität: Ein Vertrag mit dem Iran war das Hauptanlie­gen der US-Außenpolit­ik während beider Amtsperiod­en. Im Irak wurde jede Interventi­on zur Korrektur der irakischen Politik unterlasse­n, denn es war evident, dass der Iran die Hegemonial­macht im Irak ist. Eine Demokratis­ierung des Irak wäre für Teheran inakzeptab­el. Auch die US-Regierung unter Donald Trump wollte trotz der Annullieru­ng des Nuklearabk­ommens mit dem Iran keine neuen Arrangemen­ts im Irak.

Das Proporzsys­tem ist der Hauptgrund der Dysfunktio­nalität des irakischen Staates und seines fragilen Zustands.

 ?? ?? US-Botschafte­r Paul Bremer (r.) verlässt am 28. Juni 2004 den Irak und übergibt die Souveränit­ät an die irakische Übergangsr­egierung.
US-Botschafte­r Paul Bremer (r.) verlässt am 28. Juni 2004 den Irak und übergibt die Souveränit­ät an die irakische Übergangsr­egierung.

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