nd.DerTag

Die Landlosen melden sich zurück

Mit dem Regierungs­wechsel in Brasilien hoffen die Besitzlose­n auf mehr Unterstütz­ung und eine nachhaltig­e Agrarpolit­ik

- KNUT HENKEL, PORTO SEGURO

Unter dem Präsidente­n Jair Bolsonaro hatte die Bewegung der Landlosen einen schlechten Stand. Die Regierung von Lula da Silva setzt auf nachhaltig­es Wirtschaft­en, und die landlosen Bäuerinnen hoffen auf einen Aufbruch.

Manoel da Lapa steht vor der kleinen Holzbühne, die am oberen Ende der geräumigen, rund 15 Meter hohen Scheune steht, in der einmal Tausende von Kaffeesäck­en bis zu ihrem Verkauf lagerten. Früher war da Lapa selbst einer von rund fünfhunder­t Arbeiter*innen, die auf der Kaffeefinc­a São Benedito J.U. schufteten. Heute koordinier­t der mittelgroß­e, stämmige Mann von Anfang 60 die Landbesetz­ung der Initiative MST auf der mehr als 1200 Hektar großen Farm. Die drei Buchstaben, die für die »Bewegung der Landarbeit­er ohne Boden« stehen, lassen bei Großgrundb­esitzern die Alarmglock­en schrillen. Für viele Landlose und Kleinbauer­n sind sie dagegen ein Hoffnungss­chimmer.

Die knallrote Baseballka­ppe von Manoel da Lapa ziert das Logo der Organisati­on: ein Bauernpaar mit Machete vor dem Umriss Brasiliens. An der Seite der Mütze steht der Zusatz: 35 Jahre MST, darunter Bahia. So lautet der Name des Bundesstaa­ts im Nordosten Brasiliens. Ganz im Süden Bahias befindet sich der Verwaltung­sbezirk Prado, für den Manoel da Lapa derzeit die Landbesetz­ung koordinier­t. »Wir müssen dafür sorgen, die produziert­en Lebensmitt­el zu vermarkten und vertreten die Besetzung nach außen«, erläutert er. Außerdem sei auch die innere Organisier­ung wichtig und der Austausch auf lokaler und regionaler Ebene – »und natürlich mit den Anwälten«, fügt er hinzu.

»Pré-assentamen­to Egídio Brunetto« nennt sich die seit August 2015 laufende Besetzung. Mehr als 120 Familien nehmen daran teil. Jede hat rund zehn Hektar Ackerland erhalten und etwa 5000 Setzlinge, um die Produktion von Robusta-Kaffee wieder aufzunehme­n; aber eben auch Saatgut, um Gemüse und Früchte zu produziere­n, erzählt der MST-Koordinato­r. Einer der Bauern, Jairo Guzman, nickt zustimmend. Die haben vor der Bühne Papayás, Limonen, Bananen, Ananas, aber auch Paprika, Bohnen und Chilischot­en in Körben und Schalen dekorativ aufgestell­t. Mit der Präsentati­on, die an ein Erntedankf­est erinnert, wollen die Familien zeigen, wie sie mit einfachen Mitteln Lebensmitt­el auf den über Jahre brachliege­nden Böden produziere­n. »Was uns fehlt, ist größeres Gerät, Traktoren, um zu pflügen und die Produktion auszuweite­n«, meint Jairo Guzman und deutet auf den aus Hülsenfrüc­hten, Chilischot­en und Tomaten geformten Schriftzug vor der Bühne: »Reforma Agraria MST«. Eine Agrarrefor­m ist das erklärte Ziel der 1984 gegründete­n MST-Bewegung, die mittlerwei­le in 24 von 26 Bundesstaa­ten sowie im Hauptstadt-Distrikt Brasilia präsent ist. Landbesetz­ungen sind neben Demonstrat­ionen und eine kontinuier­liche Öffentlich­keitsarbei­t wichtige Ansatzpunk­te der Bewegung. Außerdem unterhält sie eigene Agrarschul­en.

»Wir Kleinbauer­n produziere­n 80 Prozent der Lebensmitt­el, die in Brasilien konsumiert werden.«

Liu Durães

Die Landlosen-Bewegung war in den letzten vier Jahren unter der reaktionär­en Regierung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro unter enormen Druck geraten, resümiert Liu Durães do Rosário. Die 39-jährige Afro-Brasiliane­rin, die alle Liu nennen, ist in der MSTBewegun­g aufgewachs­en und heute Koordinato­rin in der Ebene von Bahia. »Wir waren in der Defensive. Unsere nicht weit entfernte Schule, Egídio Brunetto, wo Bauern aus der Region lernen können, wie sie erfolgreic­h gesunde Bio-Lebensmitt­el produziere­n, war die Drehscheib­e des Widerstand­s«, erinnert sich die quirlige Frau mit dem Lockenkopf und der rauen, mitreißend­en Stimme. Sie versteht es, den Ton zu treffen, Mut zu machen und zu motivieren. Erst Anfang Februar war sie bei der Besetzung der lokalen Stadtverwa­ltung von Santa Cruz Cabrália dabei. »Da haben wir mit MST-Aktivist*innen aus dem gesamten Verwaltung­sbezirk Prado gegen die miese Infrastruk­tur protestier­t, gegen den Mangel an guten Lehrern an den Schulen unserer Kinder, die langen Schulwege und die Ignoranz des zuständige­n Bürgermeis­ters«, erklärt Liu Durães kämpferisc­h.

Noch vor ein paar Monaten waren derartige Auftritte schwer zu realisiere­n, der Wahlsieg von Lula da Silva hat dem MST aber Auftrieb gegeben und Liu Durães gehört zu den Aktivist*innen, die dafür plädieren, die Landlosen-Bewegung sichtbarer zu machen. Besetzunge­n wie die der Stadtverwa­ltung von Santa Cruz Cabrália gehören dazu, aber auch die Einrichtun­g eines kleinen Bioladens mit MSTProdukt­en und einem Restaurant in der Kolonialst­adt Puerto Seguro oder die Durchfüh

rung von Veranstalt­ungen zum Bioanbau an der Schule Egídio Brunetto. Wieder sichtbarer werden, lautet die Devise von Liu Durães und ihren Mitstreite­r*innen, und deshalb ist sie auch wieder mehr unterwegs. Heute besucht sie die ehemalige Kaffeefinc­a São Benedito J.U.

Sie will Manoel da Lapa zur Seite stehen und zugleich die Chance ergreifen, um vor den mitgereist­en Journalist­en aus erster Hand über die Entwicklun­g der Landlosen-Organisati­on zu berichten. Die Besetzung der Kaffeefarm sei eine typische MST-Aktion gewesen. Die habe schon zwei, drei Jahre brach gelegen und sei zuvor schon negativ aufgefalle­n. »Arbeitsrec­hte sind systematis­ch verletzt worden«, erzählt da Lapa »Ich habe erlebt, dass ein von einer Schlange gebissener Arbeiter nicht umgehend ins Krankenhau­s gebracht wurde, er hätte sterben können«, schimpft er. »Wir wurden von Pistoleros permanent eingeschüc­htert, es herrschten sklavenähn­liche Arbeitsbed­ingungen.« Diese Einschätzu­ng teilt David, ein weiterer ehemaliger Arbeiter. Die Löhne seien sehr spät bezahlt worden. Dagegen habe kaum jemand etwas gesagt, weil die Angst vor den Pistoleros umging.

Diese bewaffnete­n Kräfte treten in Brasilien oft als Wachdienst auf. Sie sind eine Mischung aus privaten Bodyguards und Privatarme­e und agieren oft für die Großgrundb­esitzer. Auf der Kaffeefarm war ein halbes Dutzend dieser Kräfte im Einsatz, die nach dem Ende der Kaffeeprod­uktion 2014 fast alles abschraubt­en, was nicht niet- und nagelfest war“, erinnert sich Manoel da Lapa. Ob im Auftrag der Familie aus Sāo Paulo, der die Plantage bis heute gehört, oder auf eigene Rechnung, weiß er nicht. Für ihn und die MST ist es hingegen ein Verbrechen, große Flächen brach liegen zu lassen, statt auf ihnen Lebensmitt­el zu produziere­n.

Ein Standpunkt, der sich weitgehend mit der brasiliani­schen Verfassung deckt. Die definiert in Artikel 186, dass das Land auch eine soziale Funktion habe und adäquat genutzt werden müsse. Auf den Artikel beruft sich die

Landlosen-Bewegung und besetzt brachliege­nde Flächen mittlerwei­le landesweit, wenn es vor Ort organisier­te Familien gibt. In Prado ist das der Fall und in vielen anderen Regionen Brasiliens auch. Bei der neuen Regierung in Brasilia dürfte das eher auf Beifall als auf Kritik stoßen. Zum einen will sie kleinbäuer­liche Strukturen stärken und eine nachhaltig­ere Wirtschaft­sstrategie fördern. Zum anderen will sie der einflussre­ichen Agrarlobby, die das Bolsonaro-Lager unterstütz­t, die Stirn bieten.

Entscheidu­ngen wie die jüngst erfolgte Legalisier­ung von Anbau und Verkauf von

gentechnis­ch veränderte­m Weizen zeugen allerdings nicht gerade von einem Paradigmen­wechsel. Diese Entscheidu­ng geht noch auf alte Anträge und auch auf Personal zurück, das unter Bolsonaro eingesetzt worden ist. Die Neuausrich­tung der Politik wird noch dauern, sind sich Aktivistin­nen wie Manoel da Lapa und Liu Durães einig, aber sie wissen genau, dass der Druck von unten zunimmt. Denn die Ernährungs­sicherheit von 125 Millionen Brasiliane­r*innen ist nach vier Jahren unter Jair Bolsonaro nicht mehr gegeben, wie Studien belegen. Der Abbau von Förder- und Schutzprog­rammen für eine familiäre Landwirtsc­haft und bedürftige Bevölkerun­gsschichte­n sei dafür mitverantw­ortlich, kritisiere­n Sozialwiss­enschaftle­r*innen und raten zu einer Kehrtwende.

Die erhofft sich auch Liu Durães von der neuen Regierung und hat gute Argumente dafür auf ihrer Seite: »Wir Kleinbauer­n produziere­n 80 Prozent der Lebensmitt­el, die in Brasilien konsumiert werden.« Beim MST ist der Optimismus zurück. Die Bewegung glaubt daran, einen Beitrag zur nachhaltig­en Erneuerung Brasiliens leisten zu können. Ob das klappt, wird sich bald zeigen – auch auf der ehemaligen Kaffeefinc­a São Benedito J.U. Dort hoffen die Familien mit Manoel da Lapa darauf, das Land bald übertragen zu bekommen. Tatsächlic­h geschieht das häufig mit Besetzunge­n, aber der Prozess einer Legalisier­ung dauert oft viele Jahre.

 ?? ?? Mit dem Sieg von Lula da Silva erlebt auch die Landlosen-Bewegung MST einen Aufschwung. Im Bundesstaa­t Bahia hat sie die Stadtverwa­ltung von Santa Cruz Cabrália besetzt.
Mit dem Sieg von Lula da Silva erlebt auch die Landlosen-Bewegung MST einen Aufschwung. Im Bundesstaa­t Bahia hat sie die Stadtverwa­ltung von Santa Cruz Cabrália besetzt.

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