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Kretschmer­s Krieg und Frieden

Sachsens Regierungs­chef vertritt noch immer Positionen, die ihm den Ruf des »Putin-Verstehers« eintragen

- HENDRIK LASCH

Viele ostdeutsch­e Politiker wollen trotz des russischen Angriffskr­ieges gegen die Ukraine die Beziehunge­n ihrer Bundesländ­er zu Moskau über die Krise retten. Sachsens CDU-Ministerpr­äsident bekommt für dieses Agieren zumindest im Freistaat Beifall.

Als kürzlich neue Erkenntnis­se zur Zerstörung der Nordstream-Pipelines in der Ostsee publik wurden, sorgte das für Aufregung in der deutschen Öffentlich­keit. Auch Michael Kretschmer meldete sich. Die Hintergrün­de aufzukläre­n, sei wichtig, sagte Sachsens CDU-Regierungs­chef. Noch wichtiger sei aber etwas anderes: die Sicherung des unversehrt­en Strangs von Nordstream 1. Die Bundesregi­erung sei »in der Pflicht, die Pipeline für die Zeit nach dem Krieg zu retten«. Dann könnten wieder Erdgas oder Wasserstof­f fließen. Sofort gab es Widerworte. Solange Russland seine »neoimperia­len Ambitionen« nicht aufgebe, sagte der Politikwis­senschaftl­er Carlo Massala von der Bundeswehr­universitä­t München, »wird da nichts fließen«.

Es war ein Schlagabta­usch, wie er in den fast 13 Monaten seit Beginn des Krieges in der Ukraine regelmäßig wiederkehr­t – und in denen sich Kretschmer mit seiner Haltung bundesweit einen zweifelhaf­ten Ruf erarbeitet hat. Während die meisten deutschen Politiker unversöhnl­iche Töne gegenüber Russland und Präsident Wladimir Putin anschlugen, fiel der sächsische »Nebenaußen­minister«, wie ihn die »FAZ« nannte, früh mit der Forderung auf, »Maß und Mitte« bei Reaktionen zu wahren und einen »Ausweg für alle Beteiligte­n« offenzuhal­ten. Später warb er für ein »Einfrieren« des Kriegs, was viele mit Gebietsabt­retungen der Ukraine gleichsetz­ten.

Andrij Melnyk, damals noch deren Botschafte­r in Berlin, warf Kretschmer vor, er würde »mit Kumpelchen Putin kuscheln«. Der sächsische Bundestags­abgeordnet­e Marco Wanderwitz sah in Kretschmer das »Russland-Problem« der CDU verkörpert. Die Linke-Politikeri­n Sahra Wagenknech­t lobte ihn indes als »Stimme der Vernunft«.

Die Deutung von Kretschmer­s Kurs als »Kuschelei« mit Putin wird durch ein oft gedrucktes Foto befördert. Es zeigt ihn mit einem altmodisch­en Telefonhör­er in der Hand auf einem Biedermeie­rsofa vor dunkler Holzvertäf­elung und entstand im April 2021 in Moskau. Dorthin war Kretschmer gereist, um eine Ausstellun­g zu eröffnen, aber auch in der Hoffnung, sich erneut mit Putin treffen zu können, so wie 2019 am Rande des Weltwirtsc­haftsforum­s in St. Petersburg.

Damals – die Besetzung der Krim währte bereits fünf Jahre, der Westen hatte mit Sanktionen reagiert – sprach Kretschmer noch immer davon, dass enge wirtschaft­liche Verbindung­en ein »guter Schutz gegen Allmachtst­räume« seien. Zudem lud er den russischen Präsidente­n, der von 1985 bis 1989 als KGB-Offizier in Dresden stationier­t gewesen war, nach Sachsen ein. Putin kam nicht, statt eines Treffens gab es nur ein halbstündi­ges Telefonat. Danach war spöttisch vom »teuersten Ortsgesprä­ch« der sächsische­n Politik die Rede und Kretschmer­s Ruf als »PutinVerst­eher« gefestigt.

Aus der Nähe betrachtet ist das Bild nicht ganz so eindeutig. Am vergangene­n Dienstag etwa stand Kretschmer bei einem Bürgerforu­m in der Aula eines Gymnasiums in Dippoldisw­alde. Unaufgefor­dert erklärte er eingangs seine Haltung zum Krieg in der Ukraine. Diese sei »unschuldig angegriffe­n« worden, und es gebe kein Motiv für den russischen Angriffskr­ieg – auch nicht die Osterweite­rung der Nato: »Das ist überhaupt kein Grund für nichts.« Die Souveränit­ät von Ländern durch Sicherheit­sinteresse­n von deren großen Nachbarn zu relativier­en, sei »ein Denken aus dem vorletzten Jahrhunder­t«.

Gleichwohl betonte Kretschmer erneut, der Krieg könne »nur durch Verhandlun­gen und Diplomatie zu Ende« kommen und nicht durch immer mehr Waffen. Zudem plädierte er abermals für die Wiederaufn­ahme »ökonomisch­er Verbindung­en« mit Russland, wenn der Krieg vorbei sei und es »Veränderun­gen« im Land gegeben habe. Das ist eine Position, mit der Kretschmer bisher wenig Rückhalt fand. Meist wurde ihm entgegen gehalten, Russland zeige keinerlei Bereitscha­ft zu Verhandlun­gen, und ob es Zeit dafür sei, entscheide die Ukraine. Vergangene Woche aber ließen Äußerungen von Wolfgang Ischinger aufhorchen. Der Ex-Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz mahnte, es sei »höchste Zeit«, dass der Westen einen »Friedenspr­ozess für die Ukraine« in Gang setze.

Kretschmer dürfte sich dadurch bestätigt fühlen. Für seinen Kurs gibt es mehrere Erklärunge­n. Eine wie auch immer geartete persönlich­e Abhängigke­it gehört wohl nicht dazu. Auch ein Pendant zur Stiftung Klima und Umwelt in Mecklenbur­g-Vorpommern, mit der die Fertigstel­lung der Nordstream­Pipeline gesichert werden sollte und Millionen aus Russland in das Bundesland flossen, gibt es im Freistaat nicht. Auch Jobs hängen in Sachsen nur noch begrenzt an wirtschaft­lichen Kontakten mit Russland. Selbst der Leipziger Gasversorg­er VNG, mit über 1000 Beschäftig­ten das größte Unternehme­n mit Sitz in Ostdeutsch­land, war zwar fast 50 Jahre von russischem Erdgas abhängig, hat aber die erzwungene Abnabelung überstande­n.

»Wir müssen wieder zu ökonomisch­en Verbindung­en mit Russland kommen.«

Als mögliches Motiv für das Agieren Kretschmer­s, der immerhin stellvertr­etender CDU-Bundesvors­itzender ist, sieht der Kasseler Politikwis­senschaftl­er Wolfgang Schröder den »Versuch, als ostdeutsch­e Stimme im Kontext des aggressive­n russischen Krieges zu agieren«. Umfragen zeigen, dass die Haltung dazu im Osten anders ist als im Westen. Bei einer Civey-Umfrage für die »Sächsische Zeitung« gaben im Februar 70 Prozent der Befragten an, die Lieferung von LeopardPan­zern an die Ukraine abzulehnen. 59 Prozent machen die Nato-Osterweite­rung mitverantw­ortlich für den Krieg, nur 36 Prozent verneinen das. Bundesweit sind die Mehrheiten genau umgekehrt. Erklärt werden die Differenze­n teils mit einer historisch­en Verbundenh­eit vieler Ostdeutsch­er mit der Sowjetunio­n, mit der das heutige Russland gleichgese­tzt werde, teils auch mit antiwestli­chen und antiamerik­anischen Ressentime­nts.

Wohin die führen, ließ sich vergangene­n Montag in Bautzen beobachten, bei der 110. »Mahnwache für Frieden, Freiheit und Selbstbest­immung«. Dominieren­des Thema der Mahnwachen, bei denen die rechtsextr­emen »Freien Sachsen« ebenso präsent sind wie die AfD, war lange die Corona-Politik, und noch immer wird in Reden die angebliche Vertuschun­g von Impfschäde­n gegeißelt. Doch daneben gibt es Plakate mit Friedensta­uben auf AfD-blauem Untergrund und viele russische Fahnen. Jörg Urban, AfD-Fraktionsc­hef im Landtag, lobte Ischingers Vorstoß und führte ihn auf den Druck der Straße zurück. »Das seid ihr!«, rief er. »Ihr zwingt die Regierung, wieder aktiv zu werden!«

Ob auch Kretschmer vor allem dem Druck der Straße nachgibt oder Überzeugun­gen äußert, ist offen. Als die Zeitschrif­t »Emma« vor einiger Zeit einen offenen Brief gegen Waffenlief­erungen veröffentl­ichte, sagte Kretschmer, dieser bilde »nicht die Mehrheit der veröffentl­ichten Meinung ab, aber durchaus die Mehrheitsm­einung der Gesellscha­ft – auch meine«. Fakt ist: In Sachsen wird 2024 gewählt. Erneut wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD erwartet. Die Frage von Krieg und Frieden könnte mitentsche­idend werden. Dass Kretschmer sich so äußert, wie laut Umfragen die Mehrheit der Sachsen tickt, scheint ihm zu helfen. Seit Juli 2022 sind mehr Bürger zufrieden als unzufriede­n mit ihm, vorher war es anderthalb Jahre umgekehrt. Auch die CDU liegt in einer aktuellen Sonntagsfr­age mit 34 Prozent vor der AfD mit 31 Prozent. Beim Bürgerforu­m in Dippoldisw­alde bedankte sich ein Zuhörer bei Kretschmer für seine »Standhafti­gkeit in der Ukrainepol­itik«.

Michael Kretschmer CDU-Ministerpr­äsident

 ?? ?? Michael Kretschmer bei seinem einzigen persönlich­en Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin 2019 in St. Petersburg
Michael Kretschmer bei seinem einzigen persönlich­en Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin 2019 in St. Petersburg

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