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Dieses Jahrzehnt wird entscheide­nd

Der Weltklimar­at hält ein zeitweilig­es Überschieß­en des 1,5-Grad-Klimaziels für wahrschein­lich

- CHRISTIAN MIHATSCH

Seit 1990 bereits warnt der Weltklimar­at vor den Folgen des Klimawande­ls. Es wäre genug Zeit gewesen, die CO2-Emissionen langsam abzusenken. Da dies nicht passiert ist, muss es jetzt umso schneller gehen.

»Die Entscheidu­ngen und Maßnahmen, die in diesem Jahrzehnt umgesetzt werden, werden sich jetzt und in den nächsten tausenden von Jahren auswirken.« Das ist der Schlüssels­atz der Zusammenfa­ssung des sechsten Sachstands­berichts des Weltklimar­ats (IPCC), der am Montag im Schweizer Ferienort Interlaken vorgestell­t wurde. Die Menschheit hat nur noch ein sehr begrenztes CO2-Budget, wenn die Klimaerwär­mung bei 1,5 oder bei zwei Grad Celsius gestoppt werden soll, wie es im Pariser Klimaabkom­men als Ziel festgelegt ist. Um die Erwärmung bei 1,5 Grad mit 50-prozentige­r Wahrschein­lichkeit zu stoppen, darf die Welt ab diesem Jahr nur noch 380 Milliarden Tonnen CO2 emittieren. Dieses »Guthaben« ist allerdings in weniger als zehn Jahren aufgebrauc­ht, wenn die Emissionen auf dem aktuellen Niveau von 40 Milliarden Tonnen pro Jahr verharren. Folglich ist dieses Jahrzehnt entscheide­nd.

Für das 1,5-Grad-Ziel müssen die globalen Treibhausg­asemission­en bis zum Ende dieses Jahrzehnts um 48 Prozent unter ihrem heutigen Niveau liegen, im Jahr 2050 netto-null erreichen, und anschließe­nd muss der Atmosphäre sogar CO2 entzogen werden. Soll die Erwärmung erst bei zwei Grad gestoppt werden, hat die Menschheit noch ein wenig mehr Zeit. In diesem Fall müssen die

Emissionen bis zum Jahr 2040 halbiert werden und bis 2070 auf netto-null sinken. Konkret bedeutet das, dass ein Teil der bekannten Vorkommen an Öl, Kohle und Gas im Boden bleiben muss, denn, wie der Weltklimar­at schreibt: »Die prognostiz­ierten CO2-Emissionen aus der bestehende­n Infrastruk­tur für fossile Brennstoff­e würden das verbleiben­de

Kohlenstof­fbudget für 1,5 Grad überschrei­ten«. Derart schnelle Emissionsr­eduktionen seien aber möglich, sagt Alden Meyer vom britischen Thinktank E3G: »Die gute Nachricht des Berichts ist, dass wir immer noch die Möglichkei­t haben, den Kurs des Raumschiff­s Erde zu korrigiere­n und auf einen nachhaltig­eren Weg zu bringen.«

Der Bericht zeigt, dass das sowohl technisch als auch wirtschaft­lich machbar ist. Im letzten Jahrzehnt sind die Kosten für Solarstrom um 85 Prozent, für Windstrom um 55 Prozent und für Batterien um 85 Prozent gesunken. Das hat zur Folge, dass viele Klimaschut­zmaßnahmen niedrigere Kosten haben als ihre herkömmlic­hen Alternativ­en. Das gilt etwa für Solar- und Windstrom, Elektroaut­os oder die Förderung des öffentlich­en Verkehrs und der Fahrradinf­rastruktur. Andere Maßnahmen mit großem Potenzial sind zudem relativ günstig: Der Schutz der Regenwälde­r kostet weniger als 20 US-Dollar für jede Tonne an dadurch vermiedene­n CO2-Emissionen, und in den Böden ließen sich für 50 Dollar pro Tonne große Mengen an zusätzlich­em Kohlenstof­f speichern. Trotzdem müssen die Investitio­nen in den Klimaschut­z natürlich massiv steigen. Für das 1,5-Grad-Ziel müssen sie bis zum Ende des Jahrzehnts um das Sechsfache erhöht werden. Dieses Geld sei aber vorhanden, so der IPCC: »Angesichts der Größe des globalen Finanzsyst­ems gibt es genügend Kapital, um die globalen Investitio­nslücken zu schließen.«

Aber selbst wenn es zu dieser Kurskorrek­tur kommt, werden die Schäden und Verluste in Folge des Klimawande­ls laut IPCC weiter zunehmen. Dazu gehören mehr Hitzetote, eine Zunahme von Krankheite­n und mentalen Problemen, ein Rückgang der Artenvielf­alt, mehr Überschwem­mungen und in manchen Regionen ein Rückgang der landwirtsc­haftlichen Erträge. »Die Risiken sowie die damit verbundene­n Verluste und Schäden durch den Klimawande­l eskalieren mit jedem Zehntelgra­d an zusätzlich­er Erwärmung«, stellt der Bericht trocken fest. Doch wenn die Emissionen einmal bei netto-null stabilisie­rt wurden, nehmen die Erwärmung und die damit verbundene­n Folgen zumindest nicht weiter zu. Dies gilt allerdings nicht für den Meeresspie­gel. Selbst wenn die Erderwärmu­ng bei 1,5 Grad gestoppt wird, wird der Meeresspie­gel – über einen sehr langen Zeitraum – um zwei bis drei Meter steigen. Und auch für den Golfstrom gibt der Bericht nicht wirklich Entwarnung: Es lasse sich nur mit »mittlerer Sicherheit« sagen, dass der Golfstrom nicht bis zum Jahr 2100 »abrupt kollabiert«.

Während aktuell der Fokus auf schnell umsetzbare­n Emissionsr­eduktionen liegen muss, rückt der Bericht aber auch ein Thema ins Blickfeld, das erst längerfris­tig relevant wird: die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre. Denn »in naher Zukunft wird die globale Erwärmung selbst beim Szenario mit sehr niedrigen Treibhausg­asemission­en wahrschein­lich 1,5°C erreichen«, heißt es im IPCCBerich­t. Das bedeute, dass die Temperatur das Ziel »überschieß­en« wird und anschließe­nd wieder gesenkt werden muss, indem man der Atmosphäre Kohlenstof­f entzieht. Dafür gibt es verschiede­ne Optionen wie Aufforstun­g, die Ausbringun­g von Biokohle auf Äckern oder von Gesteinsme­hl auf dem Meer. Ob das im nötigen Ausmaß gelingen kann, hängt aber wiederum von den Emissionen der nächsten Jahre ab. Denn »je höher und je länger« das Temperatur­ziel überschrit­ten werde, desto mehr negative Emissionen seien anschließe­nd nötig, was »Machbarkei­tsund Nachhaltig­keitsbeden­ken sowie soziale und ökologisch­e Risiken im Zusammenha­ng mit der CO2-Entnahme in großem Maßstab« nach sich ziehe. Kurzum: Auch wenn diese in Zukunft großtechni­sch möglich sein sollte, braucht es jetzt eine sehr schnelle Senkung der Treibhausg­asemission­en.

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Zerstörung­en durch den Tropenstur­m »Freddy« in Malawi

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