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»Dann lande ich in der Privatinso­lvenz«

Die ehemalige Linke-Abgeordnet­e Claudia Engelmann über persönlich­e Konsequenz­en der Berlin-Wahl

- INTERVIEW: RAINER RUTZ

Frau Engelmann, was haben Sie gedacht, als das Landesverf­assungsger­icht im vergangene­n Jahr angekündig­t hat, die Wahl zum Abgeordnet­enhaus von 2021 komplett wiederhole­n zu lassen?

Ich war sehr überrascht. Natürlich sind 2021 Fehler passiert, aber auf Lichtenber­g und meinen Wahlkreis Lichtenber­g 3 traf das nicht zu. Ich kann die Entscheidu­ng nicht nachvollzi­ehen.

Nun sind Sie eine der gut 25 Abgeordnet­en, die durch die Wiederholu­ngswahl ihr Mandat verloren haben – extrem knapp mit nur zehn Erststimme­n Rückstand zu Ihrem CDU-Herausford­erer – und klagen selbst vor dem Landesverf­assungsger­icht, in dem Fall auf eine Nachzählun­g der Wahlzettel.

Richtig. Wobei der Weg wohl erst mal über das Verwaltung­sgericht führen wird. Es gab in meinem Wahlkreis mehrere Auffälligk­eiten, die von Wahlhelfer*innen bestätigt wurden und die Klage angesichts des knappen Ausgangs rechtferti­gen. Angefangen bei den Wahllokale­n, in denen es mehr Stimmen als Wählende gab, bis zur Volkshochs­chule am Fennpfuhlp­ark, bei der der Fahrstuhl nicht funktionie­rte, sodass Menschen mit Rollator oder Rollstuhl im Keller wählen mussten, ohne dass dort ein eigener Wahlvorsta­nd eingericht­et war.

Lichtenber­gs Bezirkswah­lleiter und der Landeswahl­ausschuss sagen, das sind Fehler, die überall passieren können und keine komplette Kontrollzä­hlung rechtferti­gen.

Es gibt genügend Beispiele aus den vergangene­n Wahlen, wo bei einer knappen Stimmendif­ferenz noch mal nachgezähl­t wurde, 2016 in Pankow im Wahlkreis von Klaus Lederer, 2011 in Lichtenber­g in zwei Wahlkreise­n. Ich gehe auch davon aus, dass etwa im Wahlkreis von Franziska Giffey bei einer Stimmendif­ferenz dieser Art der öffentlich­e Druck so groß gewesen wäre, dass eine Kontrollzä­hlung stattgefun­den hätte.

In der »Berliner Morgenpost« wurde Ihnen vorgeworfe­n, Sie würden sich ein Vorbild an Donald Trump nehmen und so lange nachzählen lassen wollen, bis Ihnen das Ergebnis passt. Starker Tobak. Was macht das mit Ihnen?

Ich habe versucht, diese Kommentare an mir abperlen zu lassen. Und ich weiß auch nicht, ob am Ende der Kontrollzä­hlung ein anderes Ergebnis herauskomm­t. Es geht um die Wiederhers­tellung des Vertrauens in die ordnungsge­mäße Durchführu­ng von Wahlen. Wir alle brauchen das. Nach dem Eklat 2021 wäre eine Nachzählun­g wohl das geringere Übel. Es gab bei mir in 31 von 53 Wahllokale­n mögliche mandatsrel­evante Fehler. Für mein Verständni­s von Demokratie kann ich da nicht drüber hinweggehe­n. Deshalb sage ich: Ich mache das, ich ziehe das durch, mit allem, was dranhängt, denn ich klage ja als Privatpers­on.

Was kostet Sie das?

Minimum 6000 Euro. Und ich muss dazu sagen: Die habe ich nicht. Meine Unterstütz­er*innen haben deshalb schon einen Spendenauf­ruf auf der Plattform Betterplac­e ins Leben gerufen. Ich freue mich über jeden Euro. Damit unsere Stimme zählt.

Den ebenfalls angekündig­ten Antrag auf einstweili­ge Anordnung, die Konstituie­rung des Abgeordnet­enhauses am vergangene­n Donnerstag verschiebe­n zu lassen, haben Sie fallengela­ssen. Gab es da Druck aus Ihrer Partei Die Linke?

Überhaupt nicht. Das war eine rechtliche Abwägung. Ich habe mich auf die Einschätzu­ng unterschie­dlicher Jurist*innen verlassen. Das wäre noch mal mehr Geld gewesen und ich wäre damit das Risiko eingegange­n, dass bei einer Ablehnung der einstweili­gen Anordnung auch das Hauptsache­verfahren abgelehnt wird. Dann wäre die Klage ganz vom Tisch gewesen. Die Gefahr wollten wir nicht in Kauf nehmen und haben stattdesse­n gesagt: Wir gehen lieber den langsamere­n und deutlich längeren Weg, auch wenn wir erst in anderthalb Jahren eine Entscheidu­ng haben.

Was passiert jetzt mit Ihrem Wahlkreisb­üro am Anton-Saefkow-Platz in Fennpfuhl?

Seitens des Abgeordnet­enhauses wird mein Wahlkreisb­üro im März das letzte Mal finanziert, meine vier Mitarbeite­r*innen musste ich entlassen. Ich habe ein Sonderkünd­igungsrech­t für das Büro, aber auch das greift erst zum 30. Juni. Mittlerwei­le habe ich die Zusage der Partei, dass das Büro bis dahin finanziert wird. Auch die Kosten für Strom und Telefon werden vom Bezirksver­band erst mal getragen.

Sie fallen also weich.

Von wegen. Ich bekomme im April noch einen Monat Übergangsg­eld. Ich war auch bereits beim Jobcenter und bei der Arbeitsage­ntur. Bei mir ist bislang nicht geklärt, ob ich ab 1. Mai Arbeitslos­engeld I beziehe oder direkt ins Bürgergeld falle.

Bürgergeld? Ernsthaft?

Ernsthaft. Das ist schon eine extreme Kurve nach unten. Wir haben als Abgeordnet­e ja keinen sozialvers­icherungsp­flichtigen Job. Das heißt, auch nach fünf Jahren hätte ich keinen Anspruch auf ALG I. Für die Abgeordnet­en

gibt es pro Jahr der Zugehörigk­eit zum Abgeordnet­enhaus einen Monat Übergangsg­eld. Nach fünf Jahren bedeutet das, dass ich eine ganz andere Planbarkei­t mit Blick auf den Jobwechsel gehabt hätte. Natürlich kann ich auch Kosten wie die für die Handyvertr­äge für meine Mitarbeite­r*innen, Büro, Versicheru­ng und ähnliches nicht innerhalb eines Monats auf null bringen, sondern ich bleibe auf diesen sitzen.

Wovon ist das abhängig, ob Sie ALG I oder Bürgergeld bekommen?

Die Ämter rechnen gerade hin und her, ob ich ALG-I-berechtigt bin. Es wird 30 Monate zurückgere­chnet, also bis zum November 2020. In der Zeit muss ich zwölf Monate vollbeschä­ftigt gewesen sein, ohne Lücke. Bei mir ist das die Zeit von November 2020 bis November 2021. Am 4. November 2021 habe ich das Mandat angenommen. Deshalb kann es sein, dass mir wenige Tage fehlen, um ALGI-Anspruch zu haben. Schlaflose Nächte hatte ich aber nicht wegen mir, sondern weil drei der vier Mitarbeite­r*innen meines Teams ins Bürgergeld fallen: eine alleinerzi­ehende Mutter mit zwei Kindern, eine Schülerin und eine frischgeba­ckene Hochschula­bsolventin.

Und trotzdem reichen Sie eine teure Klage ein?

Natürlich. Aber man muss es knallhart sagen: Im Zweifel lande ich im Zuge der Wiederholu­ngswahl in der Privatinso­lvenz. Ich hatte nie viel Geld. Ich weiß, wie es ist, am Existenzmi­nimum zu leben. So schlimm ist es tatsächlic­h. Ich stehe mit meiner Familie mit dem Rücken an der Wand. Ich bin noch Bezirksver­ordnete in Lichtenber­g und bekomme hierfür eine steuerfrei­e Aufwandsen­tschädigun­g. Hier hatte ich etwas Hoffnung, aber auch der Zahn wurde mir gezogen. Die ehrenamtli­che Aufwandsen­tschädigun­g für die BVV wird bis auf 250 Euro im Fall von ALG I oder Bürgergeld angerechne­t.

Aber Sie werden doch in den anderthalb Jahren als Abgeordnet­e auch Rücklagen gebildet haben?

Nein, das konnte ich nicht. Ich falle also – sowohl mit ALG I als auch mit Bürgergeld – unter die Armutsgren­ze.

Sie sind ausgebilde­te Sozialarbe­iterin. Größere Probleme, einen Job zu finden, sollten Sie nicht haben.

Das stimmt. Da habe ich keine Angst. Wiederum ist das Leben komplex. Ein Detail zu meiner persönlich­en Situation: Ich habe Multiple Sklerose und bin besonders in den letzten anderthalb Jahren im Abgeordnet­enhaus oft über meine Belastungs­grenze gegangen. Dafür kann jetzt keine*r etwas, das war meine persönlich­e Entscheidu­ng. Aber für mich ist gerade klar, dass ich anders mit mir umgehen muss. Ich möchte nicht nächstes Jahr wieder im Rollstuhl sitzen oder nicht mehr sprechen können, weil ich einen schlimmen Schub habe. Gerade für meine Kinder, die jetzt 14 und 16 Jahre alt werden und beide eine Behinderun­g haben, ist es wichtig, dass wir jetzt eine kurze Pause einlegen, um uns miteinande­r neu zu orientiere­n. Wir sind sehr eng miteinande­r und natürlich erleben sie das, was ich erlebe, hautnah mit.

Das heißt, Sie legen erst mal eine Pause ein?

Ja. Ich mache endlich die Reha, die ich seit zwei Jahren immer wieder verschoben habe.

Hängen Sie die Politik an den Nagel?

Nein. Ich bin über meine Diskrimini­erungserfa­hrungen in die Politik gekommen und ich werde im politische­n Kontext bleiben, weil für mich die Anliegen der Menschen und eine solidarisc­he Gesellscha­ft im Mittelpunk­t stehen. Und ich habe das Gefühl, nein, ich habe nicht das Gefühl: Ich weiß, dass ich nicht fertig mit dem bin, was ich kann. Beispielsw­eise in der Queerpolit­ik. Ich lebe in einer Regenbogen­familie, ich weiß um all die Diskrimini­erungen, die es in dem Bereich gibt, und auch darum, welche Unterschie­de es hier bei den Angeboten gibt zwischen der Innenstadt und den Gegenden außerhalb des S-Bahnrings. Das sind Herzensang­elegenheit­en, um die ich mich weiter kümmern will.

Nun kommt noch das Thema Armut dazu ...

Es kommt nicht dazu. Sehen Sie, meine Eltern leben in Altersarmu­t, die gehen mit 1400 Euro Rente zusammen nach Hause, obwohl sie beide 40 Jahre gearbeitet haben. Auch das treibt mich an. Ich kann das gar nicht ertragen, diese Ungerechti­gkeit. Das Leben in Armutsverh­ältnissen, und dann in so einem Ausmaß. Und ich war schon immer eine Kämpferin, ich habe mich immer engagiert auf den unterschie­dlichsten Ebenen, seit sieben Jahren nun in der Politik.

Ein kurzer Blick zurück. Was werden Sie an der Arbeit im Abgeordnet­enhaus vermissen? Was werden Sie nicht vermissen? Als ich vor ein paar Tagen meine AbschiedsE-Mail geschriebe­n habe, standen mir die Tränen in den Augen. Ich werde sehr viel vermissen. Das war eine tolle Zusammenar­beit, auch in der Linksfrakt­ion. Ich komme ja aus dem kleinen Tangermünd­e: Überhaupt diese Tür zum Abgeordnet­enhaus jemals in meinem Leben zu öffnen, das hätte ich mir nie erträumen lassen, dort angekommen zu sein und dann auch so engagierte Leute zu treffen, parteiüber­greifend. Ich wollte ins Abgeordnet­enhaus, weil da die Gesetze gemacht werden, weil man dort ein Mitsprache­recht hat. Für mich wichtig ist hier der Bereich der Jugendarbe­it und der eklatante Schulplatz­mangel. Da nicht mehr mitreden zu können, das tut mir im Herzen weh.

Jetzt haben Sie nicht gesagt, was Sie nicht vermissen werden. Wenigstens die 60-Stunden-Woche?

Was werde ich nicht vermissen? (längeres Schweigen) Offensicht­lich bin ich noch nicht so weit im Abschiedne­hmen, dass ich mich über irgendetwa­s freuen könnte, wo ich sage: Oh, endlich muss ich das nicht mehr machen. Und die 60-Stunden-Woche werde ich auch jetzt haben, ich kenne mich ja.

Werden Sie bei der Abgeordnet­enhauswahl 2026 wieder antreten?

Definitiv.

 ?? ?? Claudia Engelmann (r.) und ihre Mitarbeite­rin Mandy Heimer vor ihrem Büro am Anton-Saefkow-Platz in Lichtenber­g.
Claudia Engelmann (r.) und ihre Mitarbeite­rin Mandy Heimer vor ihrem Büro am Anton-Saefkow-Platz in Lichtenber­g.

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