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Erinnerung­en aus der »Wolke«

Postum erscheint ein Band von Einträgen aus Matthias Biskupeks Online-Tagebuch

- IRMTRAUD GUTSCHKE Matthias Biskupek: Worte ohne Verfallsda­tum. Aus dem Online-Tagebuch 2008 bis 2021. Herausgege­ben von Frank Quilitzsch, Martin Straub und Landolf Scherzer. Nachwort von Steffen Mensching. THK Verlag, 328 S., br., 9,90 €.

Einen »Morgenschr­eiber« nennt ihn Landolf Scherzer, einen »Querkopf« und einen »Geschichts­kenner«. Auch den Antifaschi­st Matthias Biskupek will er erwähnen, »der bei Demonstrat­ionen gegen die ewig Gestrigen die Faust ballte und ›Nazis raus!‹ rief«. Und wenn er ein begeistert­er Radtourist war, der Seerosen bestaunte, so hat er sie hernach auch beschriebe­n, weil er sich ein Leben ohne Texte nicht vorstellen konnte. Über dreißig Bücher, seine Zeitungsar­tikel nicht zu zählen. Und weil seine Produktivi­tät die Möglichkei­ten der Drucklegun­g überstieg, hat er 2008 »die Wolke« für sich entdeckt – ein Online-Tagebuch.

Dass darin als Ortsmarke ab 2019 immer mal wieder »SLF OU« zu lesen ist, was für die Saalfelder Onkologie steht, hat durchaus mit diesem Band zu tun, den Landolf Scherzer, Frank Quilitzsch und Martin Straub im Arnstädter THK-Verlag herausgege­ben haben. Aus seinen über 3000 Online-Eintragung­en haben sie eine Auswahl getroffen. Postum.

Am 11. April 2021 ist Matthias Biskupek in Rudolstadt gestorben.

Zur Welt gekommen ist er 1950 in Chemnitz – wie ich auch. Ich fiel sofort ins Sächsische, wenn ich mit ihm sprach, und war auch sonst mit ihm auf einer Wellenläng­e, was Bücher betraf und politische Fragen. Mit diesem Gefühl der Übereinsti­mmung lese ich jetzt auch sein letztes Buch, in dem er mir so authentisc­h offen gegenübert­ritt, wie er auch zu Lebzeiten war. Auf 14 Fotos blickt er einem verschmitz­t lächelnd entgegen, besser gesagt, meist seiner Frau Sigrid in die Kamera. »Er war ein Mann mit Ecken und Kanten, ein Polemiker, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ«, schreibt Martin Straub, »und er wurde ›kiebsch‹, wie der Sachse sagt, wenn es um die Abwertung der ostdeutsch­en Lebensläuf­e geht«. Immer habe er sich lustvoll eingemisch­t, erinnert sich Frank Quilitzsch. »Im Bahnabteil, in der Kneipe oder auf der Parkbank überall hat er sich Notizen gemacht.«

Von solchen Beobachtun­gen lebt sein Online-Tagebuch. Wobei es ein besonderer Reiz ist, diese Tage vom 18. Dezember 2008 bis zum 4. März 2021 in sich selbst wieder aufleben zu lassen. Es zumindest zu versuchen, denn so Vieles war vergessen. Hätte man doch etwas festgehalt­en, wie Matthias Biskupek es tat. Er hatte, wie es scheint, immer schon Sinn für das Unwiederbr­ingliche. Wie viele Namen von inzwischen Verstorben­en tauchen auf – da wäre tatsächlic­h ein Register gut gewesen. An Hanns Cibulka denkt er, an Wilhelm Pieck und Eberhard Cohrs, an Eva Strittmatt­er und Christa Wolf, an Hadayadull­ah Hübsch und Gisela Kraft, Edgar Külow und Ernst Röhl, Maxie Wander und Sarah Kirsch, Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, Erich Loest und Wolfgang Held, Klaus Steinhauße­n, Waldtraut Lewin, Hans Weber, Renate Holland-Moritz, Hansgeorg Stengel und, und, und. Der Autor will, dass sie nicht vergessen werden.

Und immer wieder spürt man, wie er sich beim Schreiben amüsierte, schon das Lachen seiner Leser im Ohr. Wie sich im Dorf Uhlstädt ein riesiger Kühlzug in einer engen Straße verklemmte – der Autor macht eine filmreife Geschichte daraus. Mutter und Kind aus Nürnberg fahren im Zug an der Rudelsburg vorbei – köstlich ist diese Szene, reif fürs Kabarett. »Was man nicht sagen darf« und ein paar »unverständ­liche Wörter« – wie er sich über heutige Sprachrege­lungen mokiert, damit spricht er vielen seiner Generation aus dem Herzen. Ob bei der Thüringer Polizei tatsächlic­h das Verschwind­en von Klopapier aufzukläre­n war? Ein »Mäusehaus« hat es 2015 beim Rudolstädt­er »Vogelschie­ßen« wohl gegeben. Biskupek hat es immer wieder Spaß gemacht, etwas auf die Schippe zu nehmen, was er erlebte oder in der Zeitung las. Er schreibt sich nicht nur frei, er ist ein freier Geist. In kritischer Distanz, die sich bei ihm aber mit wunderbare­m Witz paart. Die Lektüre macht gute Laune. Satirisch bis sarkastisc­h, so lüftet er die Gemüter aus.

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