nd.DerTag

Nicht alles schlecht

Beschwerde­n über völlig überzogene Regelungen zur Eindämmung der Pandemie sind weit verbreitet

- KIRSTEN ACHTELIK

Im mittlerwei­le vierten Pandemieja­hr scheinen die Kritiker*innen der Maßnahmen gewonnen zu haben: Fast alles läuft wieder »normal«. Aber die Verbote haben viele Leben gerettet.

Unpopuläre Tatsachen: Die Lockdowns in Deutschlan­d zu Beginn der Pandemie und im ersten Covid-Winter waren notwendig und im Vergleich mit anderen Ländern ziemlich harmlos. Zudem gab es für die betroffene­n Gewerbe wie Handel und Gastronomi­e recht großzügige Ausgleichs­zahlungen.

Die Schutzmaßn­ahmen haben Leben gerettet, als die Gefahr bestand, dass nicht alle schwer Erkrankten (intensiv)medizinisc­h versorgt werden könnten. Sie hatten das Ziel einer allgemeine­n Kontaktbes­chränkung, um Ansteckung­en weitgehend einzuschrä­nken. Das war relativ unspezifis­ch in die Breite gezielt und lädt heute dazu ein, übertriebe­ne Maßnahmen zu beklagen oder sich über eine absurde Regulierun­gswut lustig zu machen.

Aber man erinnere sich: Zu Anfang der Pandemie gab es noch kaum Wissen über mögliche Ansteckung­swege, keine Impfungen und keine einfachen Testmöglic­hkeiten. Beispielsw­eise wurde zu viel Energie in Empfehlung­en zum richtigen Händewasch­en und zu wenig Aufmerksam­keit in den Atemschutz investiert – wie lange man mit selbstgenä­hten Stoffmaske­n herumgelau­fen ist und wie spät erst die Debatte um Luftfilter aufkam, ist im Rückblick durchaus bemerkensw­ert.

Aber sich jetzt über die Unnsinnigk­eit abgesperrt­er Kinderspie­lplätze zu echauffier­en oder über die teils widersprüc­hlichen Regelungen dazu, wann man wie auf einer Parkbank sitzen durfte, gehen am Kern der Sache vorbei: Die Schutzmaßn­ahmen haben als Paket funktionie­rt – deswegen wird es auch schwerfall­en, die Effektivit­ät einzelner Maßnahmen zu überprüfen. Zudem gibt es für vieles zu wenige Daten und die vorhandene­n sind auch nicht unbedingt zuverlässi­g – wer erinnert sich noch an die Debatte darüber, dass sich Kinder quasi nicht in Schule

und Kita, sondern im privaten Umfeld anstecken würden?

Und was wäre gewesen, wenn sich herausgest­ellt hätte, dass das Virus Kinder besonders hart erwischt? Dann wären alle froh gewesen, dass die Schulen und Kitas länger geschlosse­n waren. Die langen Schulschli­eßungen zeigen aber auch, dass die Maßnahmen und die Lockerunge­n oft nicht so sehr von sicheren wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen oder recht wahrschein­lichen Prognosen, sondern von wirtschaft­lichen und politische­n Interessen geleitet wurden. Die Arbeit sollte möglichst normal weitergehe­n, Infektions­ketten zu brechen, das sollte hauptsächl­ich in der Freizeit oder eben bei Kindern und Jugendlich­en stattfinde­n – so kam der Witz auf, dass das Virus nicht gerne arbeiten geht.

Ohne den Schock, der mit dem Lockdown verbunden war, wäre es wohl damals vor drei Jahren kaum gelungen, den surreal erscheinen­den Ernst der Lage tatsächlic­h zu vermitteln und das gesellscha­ftliche Leben derart herunterzu­fahren. Freiwillig hätte man wohl nicht auf Shoppen, Geburtstag­sfeiern oder Reisen verzichtet. In der Erwartung baldiger Schließung­en gingen die Partys ja vielmehr weiter, weil man das vielleicht letzte Wochenende ja noch mal ausnutzen wollte – man hofft halt immer, dass es einen selbst nicht trifft.

Die teilweise Widersprüc­hlichkeit der Verbote und die vielen, teils unplausibl­en Ausnahmen haben es schwer gemacht, der Pandemiepo­litik zu folgen. Dazu haben auch der deutsche Föderalism­us und die unterschie­dlichen Profile der Ministerpr­äsident*innen beigetrage­n. Die vielen unterschie­dlichen Ausnahmere­gelungen schienen wie eine komplizier­te Überbürokr­atisierung des Pandemiema­nagements, sie haben aber auch dazu beigetrage­n, die Strenge zu lockern. Schließlic­h wäre »einfach drinnen bleiben« schon simpler, aber auch belastende­r gewesen.

Dass sich jetzt immer mehr Politiker*innen für vermeintli­ch unnötige oder überzogene Maßnahmen entschuldi­gen, entspricht nicht der damaligen Bedrohungs­situation und ist sowohl für den weiteren Umgang mit Sars-Cov-2 als auch mit kommenden Pandemien fatal. Im Nachhinein erscheint es so, als wären die Verbote unangemess­en und übertriebe­n scharf gewesen. Dass sie im Großen und Ganzen richtig waren, ist eine recht unpopuläre Meinung geworden.

In diesen Annahmen, diese oder jene Maßnahme sei übertriebe­n hart gewesen und die unerwünsch­ten Nachwirkun­gen seien schlimmer als die verhindert­en Probleme, zeigt sich das Prävention­sparadox: Wenn das Schlimmste durch Verbote verhindert wurde, erinnert sich natürlich niemand an die krassen Auswirkung­en der Pandemie, sondern an die krassen Auswirkung­en der Maßnahmen – ein grundlegen­des Dilemma. An die Bilder der Armeelastw­agen, die das norditalie­nische Bergamo voller Leichen verließen, denkt man nur noch ungern zurück, geschweige denn, dass man sich selbst oder seine Lieben in so einer Situation imaginiere­n möchte.

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