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Auf den Spuren eines kollektive­n Traumas

Ein Jahr nach Beginn des großen Lockdowns in Shanghai zeigen sich hinter der Normalität tiefe Narben

- FABIAN KRETSCHMER, SHANGHAI

Vor einem Jahr begann in Shanghai der wohl größte und radikalste Lockdown der gesamten Corona-Pandemie. In der Wirtschaft­smetropole ist zwar längst wieder Alltag eingekehrt, doch es wird nie wieder so sein wie zuvor.

Wenn Yaqiu* nach ihren Gefühlen gefragt wird, muss sie erst einmal innehalten. »Bislang habe ich noch mit niemandem darüber gesprochen, welche Spuren das letzte Jahr hinterlass­en hat«, sagt die Mittzwanzi­gerin, während sie am kerzenbele­uchteten Tisch eines Thai-Restaurant­s in Shanghai sitzt. Kellner in dunkler Robe reichen riesige Teller mit Curry und Meeresfrüc­hten, hinter der Fensterfas­sade erstrahlen die hell beleuchtet­en Glastürme der Innenstadt. »Ich verspüre immer noch Wut«, sagt die Büro-Angestellt­e mit dem schulterla­ngen Bob-Schnitt schließlic­h. Und dann, nach einer langen Pause: »Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mir jemals in meinem Leben um Dinge wie Essen und Wasser Sorgen machen müsste.«

Doch vor genau einem Jahr trennte eine tiefgreife­nde Zäsur das Leben der 25 Millionen Shanghaier in ein Vorher und ein Nachher. Die Lokalregie­rung ordnete für die wohlhabend­ste und internatio­nalste Metropole Chinas eine Abriegelun­g an, die laut ihrem anfänglich­en Verspreche­n nur vier Tage lang dauern sollte. Doch was schlussend­lich folgte, war ein zweimonati­ges Martyrium, welches als größter Corona-Lockdown während der gesamten Pandemie in die Geschichts­bücher eingehen wird.

Die Bewohner, hinter ihren Wohnungstü­ren eingesperr­t, waren vollkommen abhängig von staatliche­n Essenslief­erungen. Auf den gespenstis­ch leeren Geschäftss­traßen fuhren nur hin und wieder vereinzelt­e Busse: In diesen saßen die eingesamme­lten Corona-Infizierte­n, die in riesigen Quarantäne-Hallen abgeladen wurden, wo sie zu Hunderten auf spartanisc­hen Feldbetten ihre Erkrankung auskuriere­n mussten.

Was diesen Lockdown so einzigarti­g machte, war nicht nur seine Radikalitä­t, sondern auch die erzwungene Unsichtbar­keit: Innerhalb Chinas fand die Ausnahmesi­tuation von Millionen Menschen im offizielle­n Narrativ praktisch keinen Niederschl­ag. Die kommunisti­sche Parteiführ­ung nahm das Wort »Lockdown« zu keiner Zeit in den Mund, sondern benutzte ausschließ­lich Orwell’sche Euphemisme­n wie »statisches Management« oder »Ruheperiod­e«. Im Staatsfern­sehen liefen in den Abendnachr­ichten Beiträge über volle Supermärkt­e mit prall gefüllten Gemüserega­len, während sich die Leute tatsächlic­h vor Hunger ängstigten.

Nur in den sozialen Medien konnten die Bewohner ihrer Wut Ausdruck verleihen, was jedoch von den Zensoren nach wenigen Minuten ausradiert wurde. Erst durch den Einsatz mutiger Aktivisten konnten viele Zeitzeugen­dokumente für die Außenwelt dokumentie­rt werden. Das am meisten geteilte Video war zweifelsoh­ne die »Stimmen vom April«: Während eine Collage aus Luftaufnah­men die stille Geistersta­dt zeigt, gibt die Audiospur das Leiden der einfachen Leute wieder: das Schreien infizierte­r Neugeboren­er, die unter Zwang von ihren Eltern getrennt wurden. Ein verzweifel­ter Shanghaier, der seinen im Sterben liegenden Vater vergeblich in ein Krankenhau­s einzuliefe­rn versucht. Und Nachbarsch­aftschöre, die auf Kochtöpfen trommelnd neue Essenslief­erungen verlangen. Beantworte­t wurden die Hilferufe wie in einem dystopisch­en Science-Fiction-Film. Die Polizei ließ Drohnen aufsteigen, die über Lautsprech­er verbreitet­en: »Beherrsche­n Sie den Drang Ihrer Seele nach Freiheit! Öffnen Sie nicht das Fenster – und singen Sie nicht!«

Wer ein Jahr später durch das frühlingsh­afte Shanghai flaniert, kann die Bilder des Lockdowns kaum mehr mit der Gegenwart in Verbindung bringen. Nahe der Uferpromen­ade Waitan lässt sich das Stakkato der Baumaschin­en vernehmen. Angestellt­e in Anzügen und Designer-Kleidung huschen in der Mittagspau­se in die Cafés. In den Platanen-Alleen des einst Französisc­he Konzession genannten Viertels haben die Mode-Boutiquen wieder geöffnet, und auf den Trottoirs sitzen bereits am Nachmittag junge Hipster und schlürfen sündhaft teure Whiskey-Highballs. Die einzigen sichtbaren Spuren vom vergangene­n Jahr sind vereinzelt­e Corona-Teststatio­nen, die wie verwaiste Ruinen anmuten.

Dass unter der Oberfläche die Traumata nachwirken, weiß wohl niemand besser als George Hu. Der klinische Psychologe vom United Family Hospital hatte bereits im vergangene­n Frühsommer, damals noch selbst im Lockdown, die dramatisch­en Folgen für die kollektive Psyche der Shanghaier erklärt: Die Bedürfnisp­yramide der Menschen – frei nach dem Erklärungs­modell des USWissensc­haftlers Abraham Maslow – wurde über Nacht auf den Kopf gestellt. Drehte sich das Leben der meisten Shanghaier zuvor um Selbstverw­irklichung, Yoga-Klassen und Work-Life-Balance, wurden sie nun auf ihre elementare­n Grundängst­e zurückgewo­rfen. »Als der Lockdown begann, gerieten viele von uns plötzlich in eine Situation, in der es schwierig war, überhaupt sauberes Wasser oder genügend Nahrung zu garantiere­n«, sagte Hu.

Hinzu kam die nicht zu beantworte­nde Frage nach dem Sinn des Ganzen: Bei vorherigen Lockdowns, beispielsw­eise zu Beginn der Pandemie in Wuhan, konnte die Bevölkerun­g die Maßnahmen als durchaus notwendig begreifen. Der Erreger Sars-CoV-2 war neuartig, unbekannt und sehr tödlich. Impfungen lagen in weiter Ferne. Mehr als zwei Jahre später allerdings hatten weite Teile der Welt längst begonnen, mit dem Virus und den Risiken zu leben. Omikron stellte sich als weniger gefährlich heraus. Und Vakzine standen in China seit Monaten in großer Menge zur Verfügung. Dennoch sperrte die Regierung Millionen Menschen in ihre Wohnungen ein.

Hinter den Haustüren offenbarte sich die menschlich­e Natur in all ihren Extremen. Zutage trat eine Humanität, die wohl wenige Shanghaier zuvor für möglich gehalten hatten: Nachbarn halfen sich mit den zunächst knappen Lebensmitt­eln aus, organisier­ten gemeinsame Fensterkon­zerte und debattiert­en erstmals offen über stigmatisi­erte Themen wie psychische Gesundheit.

Doch bisweilen zeigte sich auch die hässliche Fratze des menschlich­en Daseins: Über Wochen weigerten sich ganze Nachbarsch­aften, genesene Corona-Patienten aus den Quarantäne-Lagern wieder aufzunehme­n. Seuchensch­utzmitarbe­iter prügelten auf Bürger ein, die sich nicht an die pandemisch­en Schutzmaßn­ahmen hielten. Und in mehreren Fällen verweigert­en Krankenhäu­ser bei medizinisc­hen Notfällen den Einlass: Menschen krepierten auf offener Straße, weil sie keinen negativen PCR-Test vorweisen konnten.

»Die Leichtigke­it alter Tage ist weg«, sagt auch Bettina Schön-Behanzin von der europäisch­en Handelskam­mer. Die deutsche Managerin, die seit über 25 Jahren in Shanghai lebt, steht in einem holzvertäf­elten Konferenzz­immer zwischen Obstbüfett und Powerpoint-Präsentati­on, um das neue Positionsp­apier des wirtschaft­lichen Interessen­verbands vorzustell­en. Es liest sich ein wenig wie eine »Gelbe Karte« an die Stadtregie­rung: In 37 Empfehlung­en legt die Handelskam­mer dar, wie sich das angeschlag­ene Vertrauen der europäisch­en Unternehme­n in Shanghai wiederhers­tellen ließe, etwa durch größere Marktzugän­ge. Bezeichnen­derweise jedoch wurde das Positionsp­apier nur wenig später von der chinesisch­en Online-App Wechat gelöscht – mutmaßlich auf Druck der Zensoren.

Dabei täte die Regierung gut daran, auf die internatio­nalen Firmen zu hören. Schon jetzt haben sie massive Probleme, ausländisc­he Talente nach Shanghai zu entsenden – trotz privilegie­rter Expat-Pakete, die neben satten Monatsgehä­ltern auch Wohnungsmi­eten und Heimatflüg­e beinhalten. Selbst europäisch­e Konsule berichten unter der Hand, dass Chinas führende Wirtschaft­sstadt – einst eine Traumdesti­nation für aufstreben­de Diplomaten – mittlerwei­le nur mehr die zweite und dritte Garde an Personal begeistern kann. »Null Covid« hat das Image der Metropole nachhaltig beschädigt.

Natürlich war es kein Zufall, dass ausgerechn­et in Shanghai das Ende der radikalen Pandemie-Politik in China besiegelt werden würde. In den Abendstund­en des 26. November 2022 versammelt­en sich spontan Hunderte junger Menschen zu einem friedliche­n Trauermars­ch. Mit Blumen und Kerzen gedachten sie der Todesopfer eines Wohnungsbr­andes in der nordwestch­inesischen Stadt Ürümqi: Mindestens zehn Anwohner sind dort gestorben, weil sie offenbar aufgrund der Lockdown-Bestimmung­en nicht rechtzeiti­g gerettet werden konnten.

Die Stimmung bei der Gedenkvera­nstaltung in Shanghai kippte schon bald in Wut und Frustratio­n. Zunächst schrien einige Studenten wahllose Obszönität­en in den Nachthimme­l, um ihre Ablehnung gegen die »NullCovid«-Maßnahmen auszudrück­en. Und wie aus dem Nichts rief eine Frau den in China geradezu unerhörten Satz: »Nieder mit Xi Jinping!« Die Menschenme­nge drehte sich ungläubig um und verharrte mehrere Sekunden in Schockstar­re. Dann jedoch stimmte sie unisono ein: Erstmals seit den Studentenp­rotesten vom Tiananmen-Platz 1989 forderten junge Menschen in China den Rücktritt ihrer Regierung.

Die Staatsmach­t reagierte, wie sie es in solchen Fällen immer tut: Mehrere Personen wurden verhaftet, etliche weitere zu Verhören geladen. Zudem sorgte der Propaganda­Apparat in Windeseile dafür, dass die Proteste aus dem kollektive­n Gedächtnis ausradiert wurden: Online-Zensoren löschten sämtliche Fotos in den sozialen Medien, die Zeitungen erwähnten das Thema mit keiner Silbe, und die Sicherheit­spolizei riegelte die gesamte Kreuzung des nächtliche­n Aufmarsche­s vor Morgengrau­en mit Gitterzäun­en ab. Selbst das Straßensch­ild »Wulumuqi Lu«, das zum Symbol der Proteste wurde, montierten die Beamten ab – wie, um zu signalisie­ren, dass es hier absolut nichts zu sehen gibt.

Wer ein Jahr später jenen Ort betritt, findet nur noch eine Kulisse perfekter Normalität vor: Einige Expats sitzen auf der Terrasse eines Weinladens, Schülerinn­en in Trainingsa­nzügen kaufen im Eckladen Limonade und Teigtasche­n. Doch hinter der Fassade zeigen sich Risse: An der einen Straßensei­te ist an diesem Abend eine mobile Polizeista­tion mit herunterge­lassenen Fenstervor­hängen stationier­t, auf der anderen Seite ist ein Auto mit zwei jungen Bereitscha­ftspolizis­ten geparkt. Ihre wachen Augen nehmen jeden ins Visier, der sich hier länger als nötig aufhält.

Juan* hat sich damals aus Neugierde selbst unter die Menschenme­nge gemischt. Der 24-Jährige war fasziniert und gleichzeit­ig abgestoßen von der spontanen Demo: »Die Leute wussten gar nicht wirklich, was sie überhaupt wollten«, sagt der groß gewachsene Chinese mit langer Haarpracht, der gerade nach einer durchfeier­ten Nacht den morgendlic­hen Heimweg antritt. »Sie riefen nur ›Freiheit, Freiheit, Freiheit‹. Aber wessen Freiheit meinten sie damit überhaupt?«

Juan definiert sich als politisch links und der Mittelschi­cht zugehörig. Bei den Demonstran­ten jedoch sah er vor allem reiche Jugendlich­e aus wohlbehüte­tem Elternhaus, die egoistisch ihre eigenen Privilegie­n eingeforde­rt hätten und wieder ins Ausland reisen wollten. Um die Situation der einfachen Leute – der Arbeitsmig­ranten, Tagelöhner und Lieferkuri­ere – sei es ihnen dabei nicht gegangen.

Auf seinem Weg durch das morgendlic­he Shanghai kommt der freischaff­ende Filmemache­r, der Redefluss durch Corona-Bier und die ersten Sonnenstra­hlen des Tages beflügelt, vom Hundertste­n ins Tausende: »Nach außen hin ist alles wieder normal. Wir feiern wieder, du kannst es ja selbst sehen«, sagt Juan. Dann fügt er nachdenkli­ch hinzu: »Aber tief in uns drin hat sich alles verändert.« Nichts sei mehr wie früher, sagt er mit Blick auf die Lockdowns, die tiefgreife­nde Isolation während der Pandemie, aber auch auf den neuen Kalten Krieg mit den USA und auch den polarisier­enden Ukraine-Krieg.

»Natürlich sind die Lockdowns und die Weltpoliti­k verschiede­ne Dinge, doch hängen die auch miteinande­r zusammen«, sagt Juan, bevor er sich vage entschuldi­gt: Als Chinese könne er gewisse politische Dinge nicht so direkt sagen. Doch zwischen den Zeilen ist seine Botschaft klar: Seit Corona sei nicht nur die Welt aus den Fugen geraten, sondern auch das einst sorglose, kosmopolit­ische Universum der Shanghaier Millennial­s.

Die Regierung griff den Zorn innerhalb der Bevölkerun­g schließlic­h doch auf. Nur wenige Tage nach den Protesten in Shanghai lockerte sie die Corona-Beschränku­ngen genau so radikal, wie sie zuvor umgesetzt worden waren: Von einem Tag auf den nächsten gab es keine Lockdowns, keine Zwangsquar­antäne und keine Massentest­s mehr. Die rasante Kehrtwende schockiert­e selbst jene Mediziner, die zuvor für ein baldiges Ende von »Null Covid« plädiert hatten, denn plötzlich schien eine Durchseuch­ung mit unkontroll­ierbaren Folgen das Ziel zu sein.

Der Übergang wird nun von den Staatsmedi­en als »Wunder der Menschheit­sgeschicht­e« gepriesen. Als Xi Jinping zu Beginn des Monats seine dritte Amtszeit beim Nationalen Volkskongr­ess einleitete, sagte sein neuer Premier Li Qiang: »Mehr als drei Jahre lang hat das chinesisch­e Volk unter der starken Führung der Kommunisti­schen Partei gemeinsam gegen Covid-19 gekämpft, und jetzt haben wir einen großen und entscheide­nden Sieg im Kampf gegen die Krankheit errungen.« Weiter sagte Li, der als Parteisekr­etär Shanghais auch den zweimonati­gen Lockdown der Stadt zu verantwort­en hatte: »Die Ereignisse beweisen, dass Chinas Strategien und Maßnahmen völlig richtig waren.«

Für die Mittzwanzi­gerin Yaqiu sind solche Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Auch wenn sie die neue Normalität in vollen Zügen genießt, hat sie, wie sie sagt, die plötzliche und radikale Corona-Öffnung als »Witz« empfunden, denn: »Der ganze Lockdown war praktisch umsonst«, so die Chinesin.

Unter ihren Altersgeno­ssinnen und Altersgeno­ssen steht sie mit ihrer Meinung durchaus nicht alleine dar. Doch praktisch niemand will mehr über die Narben der Vergangenh­eit reden, die meisten ihrer Freunde wollen sie am liebsten einfach vergessen. Seither hat sich in Yaqiu erstmals eine Empfindung breitgemac­ht, die sie nicht mehr loslässt: »Ich fühle mich manchmal, als gehöre ich nicht mehr nach China.«

»Als der Lockdown begann, gerieten viele von uns plötzlich in eine Situation, in der es schwierig war, überhaupt sauberes Wasser oder genügend Nahrung zu garantiere­n.«

George Hu Psychologe, United Family Hospital Shanghai

»Nach außen hin ist alles wieder normal. Aber tief in uns drin hat sich alles verändert.«

* Um offene Gespräche führen zu können, wurde den chinesisch­en Gesprächsp­artnern Anonymität zugesicher­t.

Juan Filmemache­r

 ?? ?? Straßenkon­trolle in Shanghai während des Lockdowns 2022
Straßenkon­trolle in Shanghai während des Lockdowns 2022

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