nd.DerTag

Filzfäden wie Blut

Ausstellun­g zeigt Russlands koloniale Gewalt im Inneren

- NINA WINTER

Eine Ausstellun­g im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zeigt künstleris­che Positionen aus den ethnischen Communitie­s innerhalb der Russischen Föderation. Deutlich wird ein Bild von Russland als innere Kolonialma­cht.

Trotz strahlende­m Sonnensche­in an einem der ersten warmen Frühlingst­age ist die Ausstellun­g im Kunstraum Kreuzberg im Nordflügel des Bethanien auffallend gut besucht. In jedem Raum betrachten Menschen Kunstwerke, legen Formen aus Reis oder drücken auf kleine Teigfladen, manche schreiben Geschichte­n ihrer eigenen Mütter und Urgroßmütt­er in ein großes Buch. Eine Gruppe von zehn jungen russisch sprechende­n Menschen läuft diskutiere­nd über den Flur.

Die Ausstellun­g Өмә – gesprochen »öme« – wurde von der Neuen Gesellscha­ft für bildende Kunst produziert und finanziert. Zu sehen sind 30 künstleris­che Positionen aus einigen der 185 indigenen kolonisier­ten Gemeinscha­ften innerhalb der Russischen Föderation. Der Landesname Russland wird in begleitend­en Texten bewusst kleingesch­rieben, um Solidaritä­t mit den Menschen in der Ukraine – selbst nicht Teil der Ausstellun­g, aber zentral innerhalb des Begleitpro­gramms – zu zeigen.

Schwerpunk­te, so eine Kuratorin und Künstlerin aus dem FATA-Kollektiv, lägen auf Gebieten wie Baschkorto­stan, Tartarstan, Kalmückien, der Region Jamal-Nenzen oder Dagestan. Der baschkiris­chen Sprache ist auch der Ausstellun­gsname Өмә entnommen, ein Begriff, der kollektive Selbsthilf­epraktiken

bezeichnet, die besonders für nomadische Völker lebensnotw­endig sind, um Siedlungen aufzubauen und die Gemeinscha­ft zusammenzu­halten. Genauso sei dies auch im Kunstkolle­ktiv gehandhabt worden: »Es gab Treffen zu jedem Kunstwerk, wir dachten gemeinsam über Ideen nach und gaben Ratschläge. Es war ein kollektive­r Prozess – und für uns eine Methode des Widerstand­s«, sagt die Kuratorin.

Die Spannbreit­e der Ausstellun­g reicht von Malerei und Bildhauere­i, über Textilkuns­t, Raumgestal­tung und Installati­onen bis hin zu Videospiel­en und Collagen. In einem Raum liegt eine Frau aus Filz in einer Glasvitrin­e, in einzelne Teile geteilt, durchwoben von roten und blauen Adern, die an Verletzung­en und Blut erinnern. Und doch erscheint sie lebendig, als würde sie bald wieder aufstehen. In einer Remise läuft ein Bildschirm, auf dem eine weibliche Kämpferin aus einem Videospiel zu sehen ist. Sie hält zwei Schwerter, kniet blutend und offensicht­lich schwer verletzt in einer Eislandsch­aft, die Kamera umkreist sie.

In einem weiteren Raum ist eine dokumentar­ische Arbeit zu Protesten zu sehen. Auch eine Sammlung von Gesetzes- und Verfassung­sänderunge­n in der Russischen Föderation in den letzten dreißig Jahren kann begutachte­t werden. Diese künstleris­che Auseinande­rsetzung zeigt Einschnitt­e auf höchster politische­r Ebene: Etwa die Abschaffun­g indigener Sprachen in Schulen oder das 2020 erlassene Gesetz über die Bevorzugun­g von ethnischen Russen und deren Sprache als »staatsbild­ende Menschen«, denen sich alle anderen unterzuord­nen haben. Was die Kuratorin

des FATA-Kollektivs besonders an der Arbeit findet, ist »die Kritik an der rechten Regierung, aber auch an den Linken, die die russischen Praktiken unterstütz­en. Das macht diese Arbeit zu einer sehr mutigen«.

Die ersten Treffen des Kollektivs fanden vor zwei Jahren statt – noch in Russland. Unabhängig voneinande­r bewegte die Mitglieder ein gemeinsame­s Thema: die seit Jahrhunder­ten wuchernden kolonialen Gewaltstru­kturen Russlands, Migrations­prozesse und eine Zunahme an Rassismus und Diskrimini­erung ethnischer Gemeinscha­ften. Sie beobachtet­en die imperialis­tischen Ansprüche der jeweiligen russischen Machthaber und die Unterdrück­ung der heterogene­n kolonisier­ten Gebiete.

»Die Ausstellun­g war für uns eine Methode des Widerstand­s.«

Als sie den gemeinsame­n Nenner wahrnahmen, beschlosse­n sie das Kollektiv FATA zu gründen. FATA steht für »From Anger To Action« (Von der Wut zur Tat). Schnell entschloss sich das neugegründ­ete Kollektiv, an einer gemeinsame­n Ausstellun­g zu arbeiten. FATA besteht ausschließ­lich aus Frauen, nichtbinär­en und trans Personen, die sich dekolonial und feministis­ch positionie­ren. »Die Kultur in Russland ist zentralisi­ert und das ganze Geld für Kultur und Repräsenta­tion geht nach Moskau und ein wenig nach Sankt Petersburg. Alles andere bekommt kein Geld. Und indigene Künstler*innen aus peripheren

Regionen Russlands werden nicht gefördert und sind daher kaum repräsenti­ert«, kritisiert das FATA-Kollektiv auf seiner Webseite.

Die Chance, eine solche Ausstellun­g im eigenen Land zu zeigen, war bereits vor zwei Jahren klein. Spätestens mit dem Angriffskr­ieg auf die Ukraine ist in Russland jedoch jede Art von Kritik lebensgefä­hrlich. So musste die Mehrheit der vertretene­n Künstler*innen fliehen. In einem Buch, das auf der Ausstellun­g gezeigt wird, beschreibe­n sie das schmerzlic­he Vermissen ihrer Heimat. »Fast alle hier arbeiten mit einem Pseudonym. Auch die, die das Land verlassen haben, da sie um Menschen und Dinge in der Heimat fürchten müssen«, sagt eine Vertreteri­n. Genaue Ortsangabe­n und Namen werden grundsätzl­ich bei der Ausstellun­g vermieden, um keine Rückverfol­gung zu ermögliche­n. Es herrscht ein Klima der Angst. Eine Situation, die in Russland mittlerwei­le viele betrifft, die den kolonisier­ten Gebieten Russlands aber allzu bekannt ist.

Das Ziel der Ausstellun­g Өмә ist es, die Lücke im Diskurs über den russischen Kolonialis­mus zu füllen. Gezeigt wird das heutige Russland im Kontrast zum Mythos des Vielvölker­staats als das, was es ist: ein zentralist­isches Gebilde, das mit Gewalt die Kultur und Selbststän­digkeit der Kolonien zerschlägt, den Rohstoffre­ichtum ausbeutet und sie ökonomisch ausbluten lässt.

Die Ausstellun­g Өмә wird noch bis zum 29.05. im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien gezeigt. Der Eintritt ist frei. Öffnungsze­iten: Sonntags bis Mittwoch, jeweils 10 bis 20 Uhr, Donnerstag bis Samstag, jeweils 10 bis 22 Uhr.

Kuratorin FATA-Kollektiv

 ?? ?? Durchwoben von roten und blauen Adern: Viele Exponate beziehen sich auf die Gewalterfa­hrungen unterdrück­ter Gruppen in Russland.
Durchwoben von roten und blauen Adern: Viele Exponate beziehen sich auf die Gewalterfa­hrungen unterdrück­ter Gruppen in Russland.

Newspapers in German

Newspapers from Germany