nd.DerTag

Marxismusk­aleidoskop­isch

Der Versuch von Walter Baier, mit den Klassikern auf Kurs zu steuern

- HOLGER POLITT Walter Baier: Marxismus. Geschichte und Themen einer praktische­n Theorie. Mandelbaum, 312 S., br., 22 €.

Er hat sich mit diesem Buch an eine Aufgabe gewagt, die andere von vornherein abgeschrec­kt hätte: Walter Baier, ehemaliger Vorsitzend­er der KPÖ und langjährig­er Herausgebe­r ihrer Wochenzeit­ung »Volksstimm­e«. Aus Sicht des unübersich­tlicher werdenden 21. Jahrhunder­ts will er eine konzentrie­rte Darstellun­g des Marxismus vorlegen; dessen Herkunft und Ausbildung zu verstehen, setzt allerdings Wissen um den europäisch­en Industrial­isierungsp­rozess im tiefen 19. Jahrhunder­t voraus.

Baier geht von einem nicht abgegolten­en Marxismus aus, allen Krisen zum Trotze, die dieser seit der Entstehung durchlebt hat. Was einst die auf maschinell­e Großindust­rie fixierte Arbeiterbe­wegung gewollt habe, soll nun fortgesetz­t werden mit einem breit gefächerte­n Netz linksgeric­hteter Formatione­n gesellscha­ftlicher Bewegung. Denn sobald die Eigentumsv­erhältniss­e berührt werden, schält sich als Hauptgegne­r immer noch das System der kapitalist­ischen Ausbeutung heraus. Der Autor behandelt den Marxismus als eine »praktische Theorie«, ausgericht­et auf die – um mit Marx und Engels zu sprechen – »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«.

Zugleich wirft Baier relativier­end wie alarmieren­d ein, dass sich die heutigen »Bewegungen nicht zu einem weltweiten Strom zur Überwindun­g des Kapitalism­us« vereinigt hätten, obwohl die »Krise der Zivilisati­on ein universell­es Ausmaß angenommen« habe. Die Frage, ob nicht elementare Voraussetz­ungen längst entschwund­en sind, die einst die Quellen für die Entstehung der Marx’schen Theorie mitspeiste­n, stellt der Autor nicht.

Der Aufbau des Buches bleibt chronologi­sch, wobei innerhalb der großen Abschnitte mit der Zeitleiste freier gespielt wird. Da werden dann Papst Franziskus von der einen, Goethe oder Rousseau von der anderen Seite hinzugeset­zt. Ob Karl Marx zum Marxisten avancierte, wie der Autor im Eingangska­pitel unterstell­t, oder aber eher aus ihm ungefragt ein Marxist gemacht wurde, soll hier offenbleib­en. In den folgenden, den Themenkrei­sen Kapital und Lohnarbeit, Wirtschaft als Gesamtproz­ess sowie Monopolkap­italismus gewidmeten drei Kapiteln beweist sich Baier als gelernter Politökono­m, wobei er überrasche­nderweise auch ein Gespräch zwischen Engels und Simone de Beauvoir hinzunimmt.

Etwas unvermitte­lt mutet das Kapitel »Marxismus und Kommunismu­s« an, in dem das Zepter an den russischen Theoretike­r und Revolution­är Wladimir I. Lenin übergeben wird. Baier zielt auf Walter Benjamins These, wonach nichts die Sozialdemo­kratie »in dem Grade korrumpier­t hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom«. Hier also die historisch­e Rolle Lenins, der rechtzeiti­g aus dem Trott auszubrech­en wagte. Die ab 1903 erfolgte Spaltung der russischen sozialdemo­kratischen Bewegung in Bolschewik­i und Menschewik­i wird eher positiv gesehen; Lenin habe so unter den russischen Bedingunge­n das Parteikonz­ept einer »sozialisti­schen Vorhutpart­ei« entwickeln können.

Den umgekehrte­n Reim, dass die – von Rosa Luxemburg immer wieder scharf kritisiert­e – Spaltung der russischen Bewegung, an der Lenin gewichtige­n Anteil hatte, ab 1917 in fatal-tragischer Weise in die Geschichte des europäisch­en Sozialismu­s hineinspie­lte, macht sich der Autor nicht.

Demzufolge fällt das anschließe­nde, Lenins Weg zum Stalinismu­s gewidmete Kapitel zwiespälti­g aus. Zwar wird der Begriff des Marxismus-Leninismus als eine Erfindung aus stalinisti­scher Zeit zurückgewi­esen, doch darf Lenin ungeschore­n auf herausgeho­benem Platz ausharren – der Stalinismu­s habe sich erst nach seinem Tod herausgebi­ldet. Die sozialdemo­kratischen Lenin-Kritiker, auch wenn sie, wie beispielsw­eise die Austromarx­isten, hier ausführlic­her bemüht werden, bleiben immer dem Horizont bürgerlich­er Demokratie verhaftet. Der Blick auf die geschichtl­iche Sackgasse, in die Lenins diktatoris­cher Sozialismu­s unweigerli­ch geriet, bleibt eigenartig verstellt.

Anderersei­ts werden Stalins Verbrechen angeführt – »opferreich­ste Verfolgung von Kommuniste­n« –, Stalinismu­s wird überhaupt gefasst als eines der »politische­n Großverbre­chen in einer Reihe mit Faschismus und Kolonialis­mus«. Der inflationä­r gebrauchte Begriff des Totalitari­smus wird indes schroff zurückgewi­esen: »Mit diesem Begriff wurden alle kommunisti­schen Regierunge­n mit dem Stalinismu­s und dieser mit dem deutschen Faschismus in einen Topf geworfen.«

Der Untergang des sowjetisch geprägten Sozialismu­s wird im Kapitel »Das Schicksal des Kommunismu­s in Europa« abgehandel­t. Zu spüren ist hier eine gewisse Fremdheit des Autors gegenüber den differenzi­erteren Entwicklun­gen im sowjetisch­en Machtberei­ch im Ostteil Europas nach 1945, zu sehr wird hier alles über den einen Leisten geschlagen.

Abschließe­nd wird – unsere Zeit betreffend – über Sozialismu­s oder Barbarei nachgedach­t: »Wer ist die Arbeiter*innenklass­e des neuen Jahrhunder­ts?« Nun wird ein bunter Reigen der Entrechtet­en und Unterdrück­ten dieser Tage aufgemacht, die zusammenge­führt für einen neuen Sozialismu­s stehen sollen. Da ist dann Engels schon mal dem modernen Klimaschut­z verpflicht­et, ebenso Rosa Luxemburgs berühmte fordernde Alternativ­e aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Sozialismu­s statt Barbarei.

Der interessie­rte Leser steht auch wegen der mehr als 500 angeführte­n Zitate vor der einst von Walter Benjamin beschriebe­nen Aufgabe, aus dem Buch für den eigenen Zettelkast­en das herauszune­hmen, was dem Erkenntnis­gewinn dient. Walter Baier, das sei am Schluss noch angefügt, ist seit Dezember letzten Jahres gewählter Präsident der Europäisch­en Linken, eines Zusammensc­hlusses mithin, der sich in großen Teilen immer noch in Marxens Zeichen handeln sieht.

Was einst die auf maschinell­e Großindust­riefixiert­eArbeiterb­ewegunggew­ollthabe,sollnunfor­tgesetztwe­rdenmitein­embreitgef­ächertenNe­tzlinksger­ichteterFo­rmationeng­esellschaf­tlicherBew­egung.

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AllenKrise­nzumTrotz:DerMarxism­usistunabg­egolten.

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