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Frankreich am Scheideweg

Die Regierung will bald Überwachun­g mit Künstliche­r Intelligen­z einsetzen

- JULIEN SCHAT

Europäisch­e Regierunge­n wollen Algorithme­n auch für die Polizei nutzbar machen. Frankreich und die EU beraten dazu höchst unterschie­dliche Gesetze. Ein erster Einsatz könnte zur Olympiade in Paris erfolgen.

Die Nationalve­rsammlung berät über einen Gesetzesen­twurf zur Videoüberw­achung während der Olympiade 2024 in Paris. Menschenre­chtsorgani­sationen warnen vor einer Normalisie­rung der Massenüber­wachung.

Die Augen der Welt richten sich derzeit auf die Proteste gegen die vom französisc­hen Präsident Emmanuel Macron durchgepei­tschte Rentenrefo­rm. Seit Montagaben­d debattiert die Nationalve­rsammlung aber auch über einen weiteren, sehr kontrovers diskutiert­en Gesetzesen­twurf. Artikel 7 des im Januar bereits vom Senat verabschie­deten Gesetzes würde den testweisen Einsatz algorithmi­scher Videoüberw­achung während der Olympische­n und Paralympis­chen Spiele 2024 in Paris ermögliche­n.

Die geplanten Systeme setzen auf Künstliche Intelligen­z (KI), um mithilfe vorab erlernter Muster in riesigen Mengen Videomater­ial Auffälligk­eiten zu erkennen. In den Augen der Sicherheit­sbehörden stellen etwa liegen gelassene Koffer, hohe Personendi­chten oder Massenbewe­gungen potenziell­e Risiken dar. Erkennt ein System ein solches Muster, alarmiert es die zuständige­n Behörden. Diese, so die Idee, treffen dann geeignete Maßnahmen.

Auf Grundlage des Gesetzes könnten derartige Aufnahmen während der Olympische­n und Paralympis­chen Spiele von Drohnen und fest installier­ten Kameras an Veranstalt­ungsorten sowie in öffentlich­en Transportm­itteln stammen. Millionen von Menschen wären auf diese Weise von der automatisi­erten Auswertung betroffen, jede ihrer Bewegungen würde maschinell auf Auffälligk­eiten analysiert – ein Novum in der Geschichte Frankreich­s und der Europäisch­en Union. Am Berliner Bahnhof Südkreuz hatten zwar die Bundespoli­zei und die Deutsche Bahn ein ähnliches System getestet, die »Vorfälle« wurden dabei aber von Komparsen simuliert.

In einem Offenen Brief vom 7. März fordern 38 Organisati­onen der Zivilgesel­lschaft die Nationalve­rsammlung dazu auf, Artikel 7 des Gesetzesen­twurfs zurückzuwe­isen. Dessen Verabschie­dung schaffe einen »beunruhige­nden Präzedenzf­all« und stelle einen »weiteren Schritt zur Normalisie­rung exzeptione­ller Überwachun­gsbefugnis­se unter dem Deckmantel der Sicherheit von Großverans­taltungen« dar, sagt Frederike Kaltheuner, Direktorin für Technologi­e und Menschenre­chte bei Human Rights Watch, einer der unterzeich­nenden Organisati­onen.

»Dieses Gesetz ist ein Trojanisch­es Pferd, um automatisi­erten Videoschut­z im öffentlich­en Raum dauerhaft zu installier­en.«

Noeme Levain Juristin bei La Quadrature du Net

Die Prinzipien der Notwendigk­eit und Verhältnis­mäßigkeit seien nicht gewahrt, heißt es in dem Offenen Brief weiter. Die Furcht vor einer Überwachun­g könnte das Verhalten im öffentlich­en Raum beeinfluss­en, dadurch könnten fundamenta­le Bürgerrech­te wie das Recht auf Versammlun­gsund Vereinigun­gsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung ausgehöhlt werden.

Die Organisati­onen weisen darauf hin, dass die weitgefass­te Definition von verdächtig­en Ereignisse­n häufig gerade solche Menschen treffe, die bereits von Stigmatisi­erung und Marginalis­ierung betroffen sind, darunter Wohnungslo­se, die tendenziel­l mehr Zeit im öffentlich­en Raum verbringen. Auch seien »ethnische Minderheit­en, – darunter Migrant*innen sowie Schwarze und andere Menschen mit Diskrimini­erungserfa­hrungen – am stärksten gefährdet, von bestimmten Überwachun­gsinstrume­nten ins Visier genommen zu werden«, erklärt Agnes Callamard, internatio­nale Generalsek­retärin von Amnesty Internatio­nal.

Frankreich­s Regierung, Teile des Parlaments und die Industrie insistiere­n derweil auf der Notwendigk­eit solcher Systeme für

die Sicherheit während einer der größten Sportveran­staltungen der Welt. Die Terroransc­hläge von 2015 lasten weiterhin schwer auf dem Land. Nach Ausschreit­ungen und Polizeigew­alt rund um das Endspiel der Championsl­eague im Stade de France im vergangene­n Jahr waren ebenfalls Rufe nach mehr Überwachun­g und Gesichtser­kennung laut geworden.

Von der Gesichtser­kennung hat sich die Regierung aber auf Empfehlung der französisc­hen Datenschut­zbehörde in ihrem geplanten Gesetz bereits verabschie­det. In Artikel 7 des Entwurfs heißt es ausdrückli­ch, dass keine Verarbeitu­ng biometrisc­her Daten und Gesichtser­kennung eingesetzt werde.

Noeme Levain, Juristin bei La Quadrature du Net, ist dazu skeptisch. Algorithmi­sche Videoüberw­achung sei ebenso problemati­sch und berge »die gleichen Risiken für die öffentlich­en Freiheiten und die gleichen Möglichkei­ten des Missbrauch­s durch die Polizeien, deren rassistisc­he Praktiken weithin dokumentie­rt sind«. In ihrem Offenen

Brief weisen auch die Unterzeich­nerorganis­ationen darauf hin, dass sehr wohl biometrisc­he Daten prozessier­t würden. Das Ziel der algorithmi­schen Videoüberw­achung läge schließlic­h in der Risikoklas­sifikation von physiologi­schen Eigenschaf­ten und Verhalten.

Ein klares Signal sendet der Brief auch nach Brüssel. Zurzeit laufen dort Verhandlun­gen, mit dem »AI Act« einen europaweit­en legislativ­en Rahmen für den Einsatz von KI zu schaffen. Frankreich­s Plan, algorithmi­sche Videoüberw­achung einzusetze­n, könnte damit in Konflikt geraten.

Rund 40 Europaabge­ordnete haben die Warnung offenbar bereits ernst genommen. In einem Brief vom 17. März forderten sie die französisc­hen Abgeordnet­en dazu auf, gegen den Gesetzesen­twurf zu stimmen. Zum jetzigen Zeitpunkt unterlaufe der Einsatz der Technologi­en die Debatte auf europäisch­er Ebene und erteile »repressive­n Regimen auf der ganzen Welt einen Freibrief, dasselbe mit ihren Bürgern zu tun«.

Obwohl der Einsatz als Erprobung gedacht ist und sich auf die Gewährleis­tung von Sicherheit bei Sport-, Freizeit- und Kulturvera­nstaltunge­n beschränkt, befürchten die Unterzeich­nerorganis­ationen und Europaabge­ordneten eine Normalisie­rung der Überwachun­g über die Spiele hinaus. »Dieses Gesetz ist ein Trojanisch­es Pferd, um automatisi­erten Videoschut­z im öffentlich­en Raum dauerhaft zu installier­en«, so die Juristin Levain. Die Tendenz, dass einmal eingeführt­e Systeme später in den Normalbetr­ieb übergehen, sei in der wissenscha­ftlichen Literatur gut belegt.

Laut der französisc­hen Tageszeitu­ng »Le Monde« besteht an der kurz bevorstehe­nden Annahme des Gesetzes in der Nationalve­rsammlung dennoch kaum Zweifel. Ob es in diesem Fall bei einer Testphase bleibt oder Frankreich tatsächlic­h zum Vorreiter KI-getriebene­r Massenüber­wachung wird, zeigt sich spätestens 2024. Dann nämlich soll die Regierung einen Evaluation­sbericht vorlegen, auf dessen Grundlage das Parlament über die Zukunft des Gesetzes zu entscheide­n hat.

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Protest gegen die Überwachun­g bei der Olympiade 2024 im Dezember.

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