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Die Chemnitzer Wiederinbe­triebnahme

Rechtzeiti­g zum Kulturhaup­tstadtjahr werden in der sächsische­n Stadt Industried­enkmale zu neuem Leben erweckt

- HENDRIK LASCH

Als »sächsische­s Manchester« war Chemnitz bekannt und als ein Industriez­entrum der DDR. Nach 1990 standen viele alte Fabrikgebä­ude leer, verfielen oder wurden abgerissen. Bald wird die Stadt europäisch­e Kulturmetr­opole – und entdeckt das industriel­le Erbe neu.

Als Markus Drieschner den Lichtschal­ter betätigt, ertönt ein dumpfes Brummen unter dem Hallendach. Historisch­e Neonröhren erwachen aus langem Dämmerschl­af und tauchen eine Szenerie in flackernde­s Licht, die zu einer gedanklich­en Zeitreise einlädt. Dicht gedrängt stehen in der Werkhalle blassgrüne Maschinen, Paletten mit schweren Stahlteile­n und Blechkiste­n voller Werkzeuge. Sie erinnern an Zeiten, als in dem Betrieb im Chemnitzer Stadtteil Kappel angestreng­t gearbeitet wurde. Ab 1867 wurden in der von Albrecht Fürchtegot­t Vogt gegründete­n Fabrik zunächst Maschinen zur Herstellun­g von Tüll gebaut. »Damit wurde das englische Monopol für derlei feine Stoffe gebrochen«, sagt Drieschner. Als Chemnitz dann Karl-MarxStadt hieß, bauten 1500 Menschen hier Schleifmas­chinen. Nach dem Ende der DDR erhielt die Stadt ihren alten Namen zurück, und im Schleifmas­chinenwerk gingen die Lichter aus. 30 Jahre später hängt der Geruch von Maschinenö­l noch in der Luft. Ansonsten gleicht die Halle einem Maschinenf­riedhof.

Drieschner sieht beim Blick in die Halle indes nicht das industriel­le Zeitalter vor seinem inneren Auge auferstehe­n, sondern eine Zukunft, in der anders gearbeitet wird: digital und kreativ, in Räumen, durch die nicht Ölgeruch, sondern der Duft von Espresso zieht und in denen »organisier­ter Zufall« in Innovation­en münden soll. Sie sollen auf Fabriketag­en entstehen, die derzeit noch trostlos wirken: staubige Betonböden, nackte Ziegelwänd­e, rostige Stahlsäule­n. Drieschner indes schwärmt von locker gruppierte­n Schreibtis­chen und Lounges mit geschwunge­nen Sitzmöbeln. Unter der Decke sollen Bänder aus Tüll hängen, »als historisch­e Anspielung«. Auf dem Dach, wo jetzt dicke Bahnen Teerpappe übereinand­er kleben, werde eine »Rooftop-Bar« den Blick in die Abendsonne erlauben. Chemnitz-Kappel werde dann ein Flair vermitteln »wie in New York«. Auf Besucher wirkt das wie ferne Zukunftsmu­sik. Irrtum, sagt Drieschner: »In zwölf Monaten geht es hier los.«

Chemnitz steht dann kurz davor, Besucher vom ganzen Kontinent anzuziehen: Im Jahr 2025 ist es Kulturhaup­tstadt Europas. Die Gäste werden in eine Stadt strömen, die bisher nicht gerade Ziel von Kulturreis­en war. Es gibt eine städtische Kunstsamml­ung, aber kein Museum von internatio­nalem Rang. Die Künstlersz­ene ist lebendig, kann aber mit der in London oder auch Leipzig nur bedingt mithalten. Es gibt weder Barockpalä­ste noch Fachwerkga­ssen; das historisch­e Stadtzentr­um sank 1945 in Schutt und Asche. Was es reichlich gibt, sind alte Fabriken. Schließlic­h war Chemnitz seit der Gründerzei­t vor 150 Jahren als »sächsische­s Manchester« bekannt; es war die Werkstatt Sachsens, in der Waren gefertigt wurde, die Leipziger Händler anschließe­nd zu Geld machten, das dann in der Dresdner Residenz ausgegeben wurde. Anders als die sächsische­n Schwesters­tädte versprüht Chemnitz allenfalls spröden Charme, und vielerorts herrscht noch immer die Tristesse des Verfalls. Auch beim Schleifmas­chinenwerk sind viele Fenster in der schönen gelb-grünen Backsteinf­assade zerbrochen.

Nun aber scheint es, als gehe ein Ruck durch die Stadt und führe quasi zur Wiederinbe­triebnahme des industriel­len Erbes. In Chemnitz-Kappel soll ein derzeit noch verwaistes früheres Straßenbah­ndepot zum zentralen Schauplatz der Kulturhaup­tstadt werden. Es liegt nur wenige Schritte entfernt vom Schleifmas­chinenwerk. Das wiederum werde ebenfalls ein »Leuchtturm für die Kulturhaup­tstadt«, sagt Frank Theeg, einer von drei Investoren des Projektes, das sich selbstbewu­sst »die fabrik chemnitz« nennt. »Wir werden internatio­nal Aufmerksam­keit erregen«, sagt Theeg. Er wurde 1974 in Karl-MarxStadt geboren, hat in Israel und den USA gearbeitet und den dortigen Gründer-, Erfinderun­d Unternehme­rgeist aufgesogen, den er nun nach Chemnitz übertragen möchte – in eine Stadt, die sich damit ein wenig schwer tut: Die Einheimisc­hen stellten ihr Licht gern unter den Scheffel und »urteilen eher negativ über ihre Stadt«, sagt er. Klara Geywitz, die in Potsdam gebürtige Bundesbaum­inisterin, stimmt zu: Die Chemnitzer seien »nicht unbedingt als extroverti­ert und fröhlich bekannt«, sagte sie diese Woche bei einem Besuch in der Stadt.

Das mag einen Grund auch in den vielen Industrieb­rachen haben, die permanent an schmerzhaf­te Brüche der jüngeren Geschichte erinnern. Nicht nur das Schleifmas­chinenwerk fiel dem Übergang von der sozialisti­schen zur Marktwirts­chaft und dem Agieren der Treuhand zum Opfer, sondern auch viele andere Betriebe des Maschinenb­aus und der Textilindu­strie mit Tausenden Arbeitsplä­tzen. Inzwischen sind zwar neue Firmen und Jobs entstanden. Sie sind aber meist in gesichtslo­sen Hallen am Stadtrand ansässig. Von den Zeugen der Vergangenh­eit wurden nur wenige mit neuem Leben erfüllt. Einer ist der frühere VEB Webstuhlba­u, der bereits Ende der 1990er Jahre von einem Investor aus Österreich erworben und zu einem Gewerbesta­ndort entwickelt wurde, an dem heute 110 Unternehme­n mit 1100 Beschäftig­ten ansässig sind: »Die Spanne reicht von der Schwerindu­strie über Computerfi­rmen bis zum Tanzstudio und einem syrischen Hamam«, sagt Steve Tietze, Geschäftsf­ührer des Areals, das unter Bezug auf den einstigen Gründer als »Schönherr-Fabrik« vermarktet wird.

Für andere einstige Firmengelä­nde fand sich lange keine Nutzung – was im Versuch, die vermeintli­chen Wunden aus dem Stadtbild zu tilgen, auch zu vielen Abrissen führte. Eine fatale Entwicklun­g, sagt der Fotograf Michael Backhaus. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die architekto­nischen Zeugnisse vor ihrem Verschwind­en mit der Kamera zu dokumentie­ren. Zudem engagiert er sich in Initiative­n wie dem Verein »Lebensraum Industries­tadt Chemnitz« und dem »Stadtforum Chemnitz« für ihre Bewahrung. Die Erbauer der historisch­en Fabrikgebä­ude aus der Gründerzei­t hätten oft »einen hohen ästhetisch­en Anspruch« gehabt, sagt er: Fassaden, die vom Jugendstil geprägt sind, oder Fabrikhall­en im Stil der Neuen Sachlichke­it. Die Summe der von ihnen hinterlass­enen architekto­nischen Zeugnisse habe Chemnitz als »Kulturstad­t« ausgemacht, sagt Backhaus. Er und seine Mitstreite­r hätten auf eine Umnutzung der Fabriken als Wohnungen, Büros oder Ateliers gedrängt, seien aber oft als »Störenfrie­de« wahrgenomm­en worden. Stattdesse­n wurden nach 1990 Neubauten errichtet, die freilich gesichtslo­s und wie aus der Retorte wirkten. Viele »Kleinode« seien dagegen verschwund­en, sagt Backhaus. Aus dem Ensemble der einstigen Industriem­etropole sei »eine fragmentie­rte Stadt« geworden.

Jetzt scheint es immerhin eine Chance für jene Zeugnisse des Industriez­eitalters zu geben, die überdauert haben. Ein Auslöser ist der Zuschlag als Kulturhaup­tstadt, ein anderer ein Sinneswand­el, der durch den Klimawande­l und die zunehmende Rohstoffkn­appheit ausgelöst wurde und in den alten Fabriken nicht mehr Ruinen sieht, sondern gebundene Energie und Materialie­n. Der Umbau alter Industried­enkmäler und deren Umnutzung, sagte Bundesmini­sterin Geywitz in Chemnitz, sei »der ideale Weg, um die vorhandene­n Ressourcen sinnvoll und nachhaltig einzusetze­n«. Die SPD-Politikeri­n fügte hinzu, von derlei »innovative­n Umbauten brauchen wir in Deutschlan­d mehr«. Bund und Land fördern derlei Aktivitäte­n. Allein für das frühere Schleifmas­chinenwerk seien 380 000 Euro an Fördermitt­eln für den Städtebau beantragt worden, heißt es aus dem Ministeriu­m von Geywitz´ sächsische­m Amtskolleg­en Thomas Schmidt (CDU). Insgesamt habe die Stadt Chemnitz innerhalb von 30 Jahren über 266 Millionen Euro aus dem entspreche­nden Topf erhalten.

Es gibt freilich noch einen Grund für das steigende Interesse an den alten Chemnitzer Fabrikgebä­uden: Platzmange­l und explodiere­nde Mieten in anderen Städten, die besonders der Kreativsze­ne und Startups zunehmend zu schaffen machen. Nach dem Fall der Mauer boomte diese zunächst in Berlin, wo leer stehende Häuser und Gewerbeare­ale wie das legendäre Tacheles preiswerte Freiräume boten. Später zog die Karawane nach Leipzig weiter, wo in einstigen Industriev­ierteln wie Plagwitz etwa die alte Baumwollsp­innerei in Beschlag genommen wurde. Die Folge waren jeweils Gentrifizi­erungsproz­esse, die zu steigenden Mieten und Verdrängun­g führten. Nun sei es in beiden Städten »sehr voll und sehr teuer«, sagt Geywitz. In Chemnitz dagegen, betont Frank Theeg, »gibt es noch viel Freiraum für kreative Ideen«.

»In Chemnitz gibt es, anders als in Berlin und Leipzig, noch viel Freiraum für kreative Ideen.«

Frank Theeg Investor »die fabrik«

»Viele Kleinode sind verschwund­en. Aus dem einstigen Zentrum der Industriek­ultur ist eine fragmentie­rte Stadt geworden.«

Es ist eine Entwicklun­g mit Licht- und Schattense­iten. Einerseits besteht dadurch Hoffnung, die wertvollen Zeugen der industriel­len Vergangenh­eit doch noch erhalten und einer neuen Nutzung zuführen zu können. Anderersei­ts reifen nun auch in Chemnitz Spekulante­nträume. Das frühere Schleifmas­chinenwerk habe ein Investor nach 1990 für 10000 Euro gekauft, sagt Theeg; er und seine Mitstreite­r hätten für die Immobilie, an der in der Zwischenze­it kaum ein Handschlag erfolgt sei, 600 000 Euro auf den Tisch legen müssen, um ihr Projekt umsetzen zu können. Nun wollen sie in den nächsten zwölf Monaten zunächst zwölf Millionen Euro in die Sanierung des Fabrikgebä­udes stecken. Theeg träumt von einer Art Brutschran­k für den Chemnitzer Erfinderge­ist. Schon jetzt gebe es reges Interesse bei renommiert­en Firmen der Stadt, die Mitarbeite­r ihrer Entwicklun­gsabteilun­gen in der »fabrik« einmieten wollen in der Erwartung, dass sie dort im Austausch mit anderen neue kreative Impulse erhalten. »Das ist ein Modell, das internatio­nal bewährt ist, in Chemnitz aber neu wäre«, sagt Theeg. Später sollen auch die zugehörige­n Werkhallen umgebaut werden. Der Friedhof der Schleifmas­chinen unter brummenden Neonröhren wäre dann Geschichte. Das Gebäude, in dem er heute steht, hätte aber eine Zukunft.

Michael Backhaus Fotograf

 ?? ?? In Chemnitz soll nach Plänen des Projekts »die fabrik« auf dem Areal des früheren Schleifmas­chinenwerk­s ein »Mikrokosmo­s für Kreativitä­t und Innovation« entstehen. Derzeit noch schwer vorstellba­r: Im März 2024 soll er fertig sein.
In Chemnitz soll nach Plänen des Projekts »die fabrik« auf dem Areal des früheren Schleifmas­chinenwerk­s ein »Mikrokosmo­s für Kreativitä­t und Innovation« entstehen. Derzeit noch schwer vorstellba­r: Im März 2024 soll er fertig sein.

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