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Rassismus-Experten vor Aus

Russland will das Analysezen­trum Sowa auflösen

- VARVARA KOLOTILOVA

Die NGO Sowa könnte in Russland bald verboten werden. Dabei nutzten sogar staatliche Stellen früher ihre Recherchen als Quelle.

Russlands Justizmini­sterium hat vor Gericht die Auflösung des Moskauer Zentrums Sowa beantragt. Damit sind die Tage der seit über 20 Jahren existieren­den Nichtregie­rungsorgan­isation zumindest in ihrer jetzigen Form gezählt. Ein Verhandlun­gstermin steht noch nicht fest. »Wenn wir in beiden Gerichtsin­stanzen verlieren, was wahrschein­lich ist, wird unsere Organisati­on praktisch sofort aufgelöst«, sagt Alexander Werchowski­j, Gründer und Direktor von Sowa (Eule), zu »nd«.

Auf die Frage, warum die Behörden ausgerechn­et jetzt zu solch drastische­n Mitteln greifen, hat er keine Antwort. Natürlich sei die allgemeine Lage im Land äußerst angespannt, aber ihm sei kein konkreter Anlass bekannt, der direkt auf Sowa verweise. Im vergangene­n Herbst hatte die Bewegung »Veteranen Russlands« die Auflösung des Zentrums gefordert, was rückblicke­nd in gewisser Weise als Startschus­s gedeutet werden kann. Denn kurz darauf fand eine umfangreic­he behördlich­e Prüfung des Zentrums statt – damit sehen sich allerdings viele Organisati­onen in Russland konfrontie­rt.

Behörden schätzten Analysen von Sowa

Tatsache ist, dass die Tätigkeit von Sowa so manchem ein Dorn im Auge sein dürfte. Das Zentrum dokumentie­rt rechte und rassistisc­he Übergriffe; auch die Anwendung der ausufernde­n russischen Anti-Extremismu­sGesetzgeb­ung wird von den Experten dokumentie­rt. In den regelmäßig veröffentl­ichten Berichten findet sich zahlreich fundierte Kritik an der unverhältn­ismäßigen Strafverfo­lgungsprax­is, die 2023 nach den Prognosen von Sowa weiter zunehmen wird. Dabei konnte das Zentrum in früheren Jahren sogar auf staatliche Fördermitt­el zurückgrei­fen; Teile des Staatsappa­rates schätzten die systematis­ch erhobenen Angaben und Recherchee­rgebnisse als alternativ­e Informatio­nsquelle. Bis November vorigen Jahres gehörte

Bereits 2016 wurde Sowa jedoch ins Register der »ausländisc­hen Agenten« aufgenomme­n. Vor einigen Wochen hat die Organisati­on

einen Prüfungsbe­scheid erhalten, aus dem die Forderung der Staatsanwa­ltschaft hervorgeht, dass in den Unterlagen des Zentrums gezielt nach Verstößen hinsichtli­ch der Teilnahme an Veranstalt­ungen ermittelt werden sollte. Als Ergebnis hielten die Prüfungsve­rantwortli­chen 24 Veranstalt­ungen innerhalb von drei Jahren fest, an denen das Sowa-Team außerhalb von Moskau und auch im Ausland beteiligt war. Das Justizmini­sterium stuft diesen Sachverhal­t als unwiderruf­lichen Gesetzesve­rstoß ein.

Vorwürfe offenbar konstruier­t

»Das ist ein völlig neues Schema«, so Werchowski­j. Beim Zentrum Sowa handelt es sich nach der Moskauer Helsinki-Gruppe und dem in Joschkar-Ola beheimatet­en Verein Mensch und Gesetz um die dritte bekannte Organisati­on, die auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen werden soll. Die Vorwürfe – Arbeit außerhalb des Ortes, an dem die Organisati­onen registrier­t sind – lauten immer gleich.

Die russische Gesetzgebu­ng unterschei­det zwischen regionalen, überregion­alen und russlandwe­iten Vereinigun­gen. Sowa ist eine regionale Organisati­on wie der Großteil der in Russland registrier­ten Vereinigun­gen. Im Gesetz steht, dass eine regionale Organisati­on in ihrer eigenen Region tätig ist; nur überregion­ale und landesweit­e dürfen ihre Tätigkeit entspreche­nd auch in anderen Landesteil­en ausüben. »Diese Norm gilt seit einem Vierteljah­rhundert, und früher kam niemand auf die Idee, dass diese Vorgabe buchstäbli­ch aufzufasse­n ist«, sagt Werchowski­j. Denn wäre dies der Fall, könnte niemand an einem Seminar oder einer Besprechun­g in einer anderen Stadt teilnehmen. Dafür gründe man schließlic­h keine eigene Struktur, lautet sein Fazit.

»Das ist eine extrem praktische Methode«, so der Sowa-Gründer. Wenn niemand dieser neuen Tendenz Einhalt gebiete und das Beispiel Schule mache, könnte jeder lokale Staatsvert­reter eine missliebig­e Organisati­on auf diese Weise aus der Welt schaffen, ohne stichhalti­ge Vorwürfe vorzubring­en. »Deshalb hege ich die vage Hoffnung, dass irgendjema­nd auf der Führungseb­ene bemerkt, dass es sich hier um einen problemati­schen Präzedenzf­all handelt.« Werchowski­js Worte klingen wie ein letzter Appell an die Vernunft.

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