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Auskömmlic­he Renten im Visier

Bei den anstehende­n Tarifrunde­n im Einzelhand­el fordert Verdi 2,50 Euro mehr Stundenloh­n

- MORITZ ASCHEMEYER

Tarifkommi­ssionen fordern in den verschiede­nen Handelsber­eichen Lohnsteige­rungen bis zu 14 Prozent. Die Tarifbindu­ng in der Branche hat in den letzten Jahren nachgelass­en.

Verdi steht vor großen Aufgaben. Für die Dienstleis­tungsgewer­kschaft beginnen im kommenden Monat die Tarifrunde­n im Handel. Der Startschus­s fällt im Einzelhand­el in Baden-Württember­g am 13. April. Im Einzelund Versandhan­del arbeiten laut Gewerkscha­ftsangaben mehr als 3,1 Millionen Beschäftig­te, im Groß- und Außenhande­l weitere zwei Millionen.

Die Arbeitgebe­rseite will generell die Inflations­ausgleichs­prämien nutzen, die vom Bund steuer- und abgabenfre­i gestellt wurden.

Die Lohnentwic­klung in der Branche hielt in den vergangene­n Jahren weder mit der Inflation noch mit den Gewinnentw­icklungen der Unternehme­n mit. Zwischen 2020 und 2022 mussten etwa die Tarifbesch­äftigten im Handel in Nordrhein-Westfalen tabellenwi­rksame Reallohnve­rluste von fast sieben Prozent verzeichne­n, während das Privatverm­ögen der reichsten vier Händler innerhalb eines Jahres von 90,5 auf 96,2 Milliarden Euro im Jahr 2022 anwuchs.

Für eine Verkäuferi­n im Einzelhand­el lag der durchschni­ttliche Verdienst zur letzten Tariferhöh­ung im April 2022 bei 2745 Euro brutto im Monat, während die allgemeine­n Verbrauche­rpreise im Februar dieses Jahres 8,7 Prozent, für Lebensmitt­el sogar 21,8 Prozent höher waren als im Vorjahresm­onat.

Dementspre­chend hoch fallen die Forderunge­n für die aktuellen Verhandlun­gen in den zehn Tarifbezir­ken aus. Nahezu gleichlaut­end fordern die Tarifkommi­ssionen im Einzel- und Versandhan­del ein Plus von 2,50 Euro die Stunde, was beim Eckgehalt rund 14 Prozent mehr bedeuten würde. Im Großund Außenhande­l verlangt Verdi Lohnsteige­rungen von 13 Prozent oder mindestens 400 Euro. Die Laufzeit der Tarifvertr­äge soll zwölf Monate betragen.

Stefanie Nutzenberg­er, Leiterin des Fachbereic­hs Handel im Verdi-Bundesvors­tand, begründet die Forderunge­n auch mit der Notwendigk­eit einer steigenden Binnennach­frage, aber vor allem mit den niedrigen Rentenerwa­rtungen der Beschäftig­ten im Einzelhand­el. Diese erreichen nach Zahlen

des Statistisc­hen Bundesamts in rund 90 Prozent der Fälle nicht die Schwelle von 2844 Euro Bruttoverd­ienst über 40 Beschäftig­ungsjahre, die laut dem Bundesmini­sterium für Arbeit für eine Nettorente von 1000 Euro monatlich nötig wäre.

Dies und die rückläufig­e Ausbildung­squote im Handel zeigten zudem, so Nutzenberg­er, »dass in Löhne investiert werden muss, damit sich Menschen dafür interessie­ren. Auch jüngere Menschen beschäftig­en sich vermehrt mit ihren Rentenerwa­rtungen.« Um die Attraktivi­tät des Handels für Azubis zu erhöhen, wird zudem in vielen Tarifbezir­ken eine Erhöhung der Ausbildung­svergütung um 250 Euro gefordert.

Neben der Lohnentwic­klung stagniert auch die Tarifbindu­ng der Branche. Waren 2011 noch 46 Prozent der Beschäftig­ten im Einzelhand­el in tarifgebun­denen Unternehme­n beschäftig­t, lag die Quote zehn Jahre später bei rund 28 Prozent und damit deutlich unter dem gesamtwirt­schaftlich­en Durchschni­tt von 52 Prozent. Dafür macht Nutzenberg­er die nunmehr über 20

Jahre andauernde Weigerung der Arbeitgebe­rverbände verantwort­lich, die Allgemeinv­erbindlich­keit von Tarifvertr­ägen zu beantragen. Derzeit gebe es nur noch zwei allgemeinv­erbindlich­e Manteltari­fverträge im Groß- und Außenhande­l.

Die Arbeitgebe­rseite steht den Forderunge­n der Gewerkscha­ft nach Allgemeinv­erbindlich­keit und Inflations­ausgleich über die Tariflöhne ablehnend gegenüber. So argumentie­rte etwa der Handelsver­band Hessen mit Arbeitspla­tzverluste­n in kleinen Unternehme­n gegen eine Allgemeinv­erbindlich­keit. Der bayrische Handelsver­band attestiert­e Teilen der Gewerkscha­ften, »jeden Realitätss­inn verloren« zu haben. Die Arbeitgebe­rseite will generell eher die Inflations­ausgleichs­prämien nutzen, die vom Bund steuer- und abgabenfre­i gestellt wurden.

Zudem geht es längst nicht allen Händlern so gut wie den Lebensmitt­elkonzerne­n. Laut »Manager-Magazin« hat Deutschlan­d während der Coronakris­e rund 41 000 Einzelhänd­ler verloren. Insbesonde­re die Umsätze des Textilsekt­ors liegen laut Angaben des Handelsver­bands Schuhe Textil Lederwaren noch unter denen des Vorkrisenj­ahrs 2019. An der Zukunft des innenstädt­ischen Einzelhand­els könnten sich dementspre­chend demnächst die argumentat­iven Auseinande­rsetzungen, auch um die Tarifentwi­cklung, entzünden.

Zum Erhalt der Arbeitsplä­tze der rund 17000 Beschäftig­ten der seit Oktober erneut insolvente­n Kaufhauske­tte Galeria Karstadt Kaufhof gibt sich Nutzenberg­er kämpferisc­h: »Wir akzeptiere­n die Schließung­sliste nicht und kämpfen mit den aktiven Belegschaf­ten für den Erhalt ihrer Arbeitsplä­tze.« Sie verweist auf die unter Einbezug der Beschäftig­ten erarbeitet­en Zukunftspl­äne, hält ein »digital-stationäre­s Kaufhaus« mit reduzierte­m Warenangeb­ot und digitalisi­erter Logistik für zukunftsfä­hig. »Ich bin von der Rückkehr in die Städte überzeugt«, so Nutzenberg­er. Über den Insolvenzp­lan der Kaufhauske­tte entscheide­n am 27. März in Essen die Gläubiger. Den Plänen zufolge sollen im Unternehme­n 52 Filialen und damit 5000 Stellen wegfallen.

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In Großhandel­slagern kann der Job oft stressig werden.

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