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Leitfaden der Verdrängun­g

Der Neuköllner Sozialstad­trat plant Tabu-Zonen für Obdachlose, die Sozialarbe­it ist dagegen Friedhöfe, Spielplätz­e, Kitas, Schulen: Dort will der CDU-Mann Obdachlose einfacher räumen lassen. Doch Verdrängun­g ändert nichts an der Lage.

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Obdachlosi­gkeit ist ein Problem – in den Augen des Neuköllner Sozialstad­trates Falko Liecke (CDU) vor allem für die »Wohnbevölk­erung«. Vergangene Woche hat sein Geschäftsb­ereich den »Leitfaden Obdachlosi­gkeit« herausgege­ben und sich darin insbesonde­re mit Nutzungsko­nflikten des öffentlich­en Raumes beschäftig­t. »Lärm, Verschmutz­ung, zurückgela­ssene Drogenkons­umutensili­en« sorgten für »eingeschrä­nkte Nutzbarkei­t städtische­r Infrastruk­tur«, also Bänke, Grünanlage­n oder Fahrradbüg­el.

Besonders vier Orte sieht der Leitfaden als »besonders schützensw­ert« an, nämlich Friedhöfe, Kinderspie­lplätze, Schulen und Kitas. Dort bestünde eine »bestimmte Zweckbindu­ng«, die ein »Überwiegen des öffentlich­en Interesses an der Beendigung der zweckwidri­gen Nutzung im Regelfall vermuten« lasse. Sprich: Der Sozialstad­trat findet Räumungen von wohnungslo­sen Menschen, die sonst Fall für Fall geprüft werden müssten, hier prinzipiel­l okay. »Für diese Orte habe ich die Abwägung zwischen den grundrecht­lich geschützte­n Rechtsgüte­rn also bereits vorgenomme­n«, erklärt Liecke gegenüber »nd« noch einmal.

Cengiz Tanriverdi­o arbeitet als Straßensoz­ialarbeite­r in dem Projekt Drop Out von Gangway. Er wusste von dem Leitfaden bis zu der Veröffentl­ichung nichts. Falls das Bezirksamt eine Räumung beschließe, gebe es bereits ein abgesproch­enes Verfahren, erzählt Tanriverdi­o. Die Sozialarbe­iter*innen werden informiert und versuchen, für die Betroffene­n Unterbring­ungen zu organisier­en. Falls das nicht funktionie­rt und sich eine Räumung nicht verhindern lässt, geben sie den Obdachlose­n Bescheid. Drop Out stünde nicht auf der Seite der Räumenden, so Tanriverdi­o, »aber die Betroffene­n sollen vorher wenigstens ihr Hab und Gut wegräumen können«.

Dass nun unter anderem Friedhöfe zu einer Art Tabu-Zone werden, hält Tanriverio für falsch. »Wen stört das denn, ein Zelt in der Ecke? Wir haben Obdachlose, die dort wirklich leben, warum sollten sie weg?« Seiner Erfahrung nach beschweren sich Menschen nur selten wegen tatsächlic­her Konflikte. »Das stört einfach ihr Auge, da müssen die Obdachlose­n gar nichts machen. Viele haben einfach keine Empathie für die Leute.«

Deshalb Obdachlose und ihre Schlafstät­ten zu räumen, das bedeutet für Tanriverdi­o nichts anderes als Verdrängun­g. »Die Leute bleiben ja da, wenn sie von einem Ort vertrieben werden, tauchen sie woanders wieder auf.« Es bräuchte schlicht mehr nachhaltig­e Angebote wie Housing First. Den Verweis des Leitfadens auf »freiwillig­e Obdachlosi­gkeit« hält er für unpassend: »Es wird so getan, also ob die Sammelunte­rkünfte ein FünfSterne-Hotel wären.«

Was bis zu einer nachhaltig­en Lösung für aktuell obdachlose Menschen passiert, bleibt dennoch die Frage. Eine angestellt­e Person eines Friedhofes an der Hermannstr­aße, die anonym bleiben möchte, beschreibt schwierige Zustände. »Die waschen sich hier, hin und wieder kommt eine Grabschänd­ung zustande, wir finden Spritzen auf den Gräbern und andere Hinterlass­enschaften.« Der Insider spricht von Angehörige­n, die Angst hätten, auf die Friedhöfe zu gehen.

Taylan Kurt, sozialpoli­tischer Sprecher der Grünenfrak­tion im Abgeordnet­enhaus, will die schwierige Situation für Obdachlose wie für Anwohner*innen gar nicht beschönige­n. »Aber der Sozialstad­trat macht es sich zu einfach«, sagt er zu »nd«. Kurt erklärt, dass die Nischen in der Stadt für Schlafstät­ten ohnehin immer weniger würden. »Wenn man eine Negativlis­te hat, bräuchte es auch eine Positivlis­te mit den Bereichen, wo Obdachlose geduldet werden.« Sonst bliebe der Leitfaden reine Symbolpoli­tik – und eine »sozialpoli­tische Katastroph­e«.

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