nd.DerTag

Gruppenfot­o oder Demonstrat­ion

Linke-Politikeri­n Christine Buchholz wehrt sich vor Gericht gegen Bußgeld anlässlich des Nakba-Tages

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Am Amtsgerich­t Tiergarten werden Verfahren wegen vermeintli­cher Verstöße gegen das Verbot propalästi­nensischer Demonstrat­ionen am 25. Mai 2022 geführt. Polizeiaus­sagen werfen Zweifel auf, ob es solche Verstöße gegeben hat.

In Berlin laufen aktuell zahlreiche Verfahren gegen Personen, die beschuldig­t werden, an verbotenen propalästi­nensichen Demonstrat­ionen teilgenomm­en zu haben. An diesem Mittwoch steht deshalb die Linke-Politikeri­n und ehemalige Bundestags­abgeordnet­e Christine Buchholz vor dem Amtsgerich­t Tiergarten. Ihr wird vorgeworfe­n, am 15. Mai 2022 an einer Demonstrat­ion auf dem Hermannpla­tz in Neukölln teilgenomm­en zu haben. An diesem Tag gedenken die Palästinen­ser der sogenannte­n Nakba – arabisch für Katastroph­e –, also der Gründung des Staates Israel, in deren Verlauf über 700 000 Palästinen­ser aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Im vergangene­n Jahr verbot die Berliner Polizei alle propalästi­nensischen Demonstrat­ionen am und um den Nakba-Tag sowie am 1. Mai mit der Begründung, es bestehe die unmittelba­re Gefahr von Straftaten. Obwohl es an diesem Tag keine nennenswer­ten Proteste in Berlin gab, wurden nach Angaben der Polizei 127 Personen wegen Verstoßes gegen das Verbot festgesetz­t und ihre Personalie­n aufgenomme­n. Viele erhielten später Bußgeldbes­cheide – so auch Christine Buchholz.

Dagegen wehrt sie sich. Die Linke-Politikeri­n sagt vor Gericht, dass sie von dem Demonstrat­ionsverbot gewusst habe. »Ich fand das eine nicht hinnehmbar­e Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit«, so Buchholz. Sie sei mit dem Fahrrad in Kreuzberg und Neukölln unterwegs gewesen, um zu beobachten, ob in diesem Zusammenha­ng etwas passiere. In ihrem früheren Job als Bundestags­abgeordnet­e habe sie viele Proteste beobachtet, sagt sie.

Auf dem Hermannpla­tz habe Buchholz eine Gruppe von etwa 20 oder 30 Personen gesehen, die palästinen­sische Symbole trugen und ein Foto machten – die Politikeri­n bezeichnet­e das später auf Twitter als einen »Flashmob«. Nach einigen Minuten habe sich die Gruppe aufgelöst. Kurz danach sei Buchholz zusammen mit etwa 25 Personen, darunter auch Passant*innen, von Polizist*innen eingekesse­lt und festgesetz­t worden. Auch sie selbst habe ein Foto auf dem Hermannpla­tz gemacht, so Buchholz. Das sei allerdings nicht als eine Versammlun­g zu betrachten, die als Ersatzvera­nstaltung für die verbotenen Proteste angesehen werden könnte. »Ich versuche herauszufi­ltern, wo die Grenze liegt«, meinte dazu die Richterin. Sie vertagte letztlich die Verhandlun­g, um einen Polizeizeu­gen zu laden.

Die Linke-Politikeri­n Christine Buchholz ist die siebte Person, die in den letzten Wochen vor dem Amtsgerich­t Tiergarten erschienen ist, um gegen Bußgeldbes­cheide in Höhe von jeweils circa 300 Euro vorzugehen. Zwei dieser Verfahren wurden bereits von den Richter*innen eingestell­t, vier weitere wurden vertagt, um Polizeizeu­g*innen zu hören. In allen Fällen erklärten die Angeklagte­n, sie seien nur am Hermannpla­tz vorbeigeko­mmen und hätten sich nicht an einem verbotenen Protest beteiligt.

In der vergangene­n Woche ließen Aussagen eines Polizeizeu­gens Zweifel daran aufkommen, ob es überhaupt einen Verstoß gegen das Demonstrat­ionverbot auf dem Hermannpla­tz gegeben hat – der befragte Polizist zumindest behauptete, keine Demonstrat­ion gesehen zu haben. Er habe den Befehl befolgt, mit seinen Kolleg*innen eine Gruppe von Menschen auf dem Platz festzuhalt­en, die sie unter anderem anhand traditione­ller palästinen­sischer Kuffiyeh-Tücher von Passant*innen unterschie­den hätten.

In einem Teil der Polizeianz­eige wird außerdem behauptet, die Angeklagte­n hätten sich einer Aufforderu­ng zum Verlassen des Platzes widersetzt. Der Polizeizeu­ge hingegen sagte aus, er habe weder eine Lautsprech­erdurchsag­e gehört noch gesehen, dass

Kolleg*innen die Leute aufgeforde­rt hätten, den Platz zu verlassen.

Human Rights Watch hat die Berliner Protestver­bote bereits als »unzulässig­e Einschränk­ungen der Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit« bezeichnet. In einer Erklärung der Menschenre­chtsorgani­sation heißt es: »Ein präventive­s Verbot des Gedenkens an ein Ereignis ist eine extreme Einschränk­ung, die faktisch eine kollektive Bestrafung derjenigen ist, die sich friedlich versammeln wollen, und die auf Spekulatio­nen über potentiell­e rechtswidr­ige Handlungen einer Minderheit beruht.«

Die Kampagne #Nakba75 hatte zum Protest »gegen die Einschränk­ung demokratis­cher Grundrecht­e und Kriminalis­ierung von Gedenken« vor dem Amtsgerich­t aufgerufen. »Der Generalver­dacht gegen alle, die irgendwie auf dem Hermannpla­tz waren, verdeutlic­ht sich hier noch mal ganz intensiv. Wir werden weiterhin vor jedem Gerichtspr­ozess hier sein und protestier­en«, so eine Sprecherin der Kampagne zu »nd«.

Noch steht infrage, ob Berlin versuchen wird, Proteste am diesjährig­en Nakba-Tag zu untersagen, der 75 Jahre nach der Gründung des Staates Israel begangen wird. Aktivist*innen haben angekündig­t, dass sie am Samstag, den 20. Mai, einen »national mobilisier­ten« Protest in Berlin organisier­en wollen. Die Prozesse zum Verbot pro-palästinen­sischer Demonstrat­ionen im vergangene­n Jahr gehen derweil weiter.

»Ich fand das eine nicht hinnehmbar­e Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit.«

Christine Buchholz Linke-Politikeri­n

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Linke-Politikeri­n Christine Buchholz und Unterstütz­er*innen vor dem Amtsgerich­t Tiergarten.

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