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Goldstanda­rd nicht vor 2045

Richtlinie­n für Kiezblocks sollen Mogelpacku­ngen der Verkehrsbe­ruhigung entlarven

- NICOLAS ŠUSTR

Nicht alles, was als Kiezblock bezeichnet wird, ist in den Augen der Verkehrswe­nde-Lobby von Changing Cities wirklich einer. Nur drei Monate könnte bei optimalen Prozessen die Umsetzung pro Kiez dauern, glaubt man beim Verein. »Die Kiezblocks sind in Berlin nun drei Jahre alt und wir haben stadtweit 65 Initiative­n. Das ist der Hammer«, sagt Ragnhild Sørensen, Sprecherin des aus dem Fahrrad-Volksbegeh­ren hervorgega­ngenen Verkehrswe­ndeVereins Changing Cities. »Aber wir müssen der planerisch­en Beliebigke­it etwas entgegense­tzen. Wenn irgendwo eine Einbahnstr­aße ausgewiese­n wird, ist das noch kein Kiezblock«, so Sørensen weiter.

Die Antwort von Changing Cities sind die Richtlinie­n zur Anlage von Kiezblocks, deren erste, seit Mitte Februar vorliegend­e Version unter Federführu­ng des Stadt- und Raumplaner­s Hans Hagedorn das schöne Kürzel RAKi 23 bekommen hat. Fachgruppe Standards für die Mobilitäts­wende (FGSM) ist die Arbeitsgru­ppe getauft worden.

Dieser Abkürzungs­fimmel ist eine überdeutli­che Anspielung auf die Forschungs­gesellscha­ft für Straßen- und Verkehrswe­sen e. V. (FGSV). Etwa 3500 ehrenamtli­ch Mitarbeite­nde aus dem Bundesverk­ehrsminist­erium, Verwaltung­en, Ingenieurb­üros und ähnlichen Bereichen entwickeln in diesem privaten Verein die Standards für das Verkehrswe­sen in Deutschlan­d. Ohne jegliche öffentlich­e Beteiligun­g werden diese Vorschläge zu deutschlan­dweit gültigen Regelwerke­n.

Die Autozentri­ertheit der Maßgaben der FGSV hat maßgeblich zur autogerech­ten Ausgestalt­ung der Städte in der Bundesrepu­blik beigetrage­n. Da die Vorgaben als sogenannte­r Stand der Technik gelten, sind die Straßenbau-Lastträger juristisch auf der sicheren Seite, wenn sie sie anwenden. Die Zivilgesel­lschaft hat nach wie vor praktisch keinen Zugang zu diesem Club. Am Dienstagab­end hat Changing Cities zur Diskussion und Weiterentw­icklung der Kiezblock-Richtlinie­n geladen. Mehrere Dutzend Interessie­rte sind in die Stadtwerks­tatt an der Karl-Liebknecht­Straße gekommen.

Was sind denn nun Kiezblocks genau? Zunächst geht es vor allem darum, den motorisier­ten Durchgangs­verkehr durch Wohnvierte­l zu unterbinde­n. Vier Planungspr­inzipien nennt Experte Hans Hagedorn dafür. Es ginge darum, alle Wege im Kiezblock für den Umweltverb­und aus Fuß-, Rad- und öffentlich­em Nahverkehr zu optimieren, die Erreichbar­keit im Wirtschaft­sverkehr zu gewährleis­ten, die Routen für den privaten Kfz-Verkehr einzugrenz­en und eben den nicht lokalen Kfz-Verkehr zu unterbinde­n.

Doch für Changing Cities geht es um mehr als den Durchgangs­verkehr. In den Kiezen gewonnene Flächen sollen beispielsw­eise der Klimaanpas­sung dienen, also durch die Pflanzung von Bäumen und die Entsiegelu­ng auf die Gegebenhei­ten der Klimakrise reagieren. Auch die Lebensqual­ität soll durch weniger Lärm und mehr Platz für Stadtleben steigen.

Die Mobilität soll gesichert werden, wofür Parkraum für definierte Zwecke ausgewiese­n wird. Zunächst müsse gewährleis­tet werden, dass Menschen mit Mobilitäts­behinderun­g

ihre Fahrzeuge möglichst nah an ihren Zielen abstellen können. Es folgen in der Hierarchie Abstellflä­chen für SharingFah­rzeuge wie Fahrräder, Elektrorol­ler oder Autos, schließlic­h die vor allem für Lieferverk­ehr und Handwerksb­etriebe wichtigen Kurzzeit-Parkplätze sowie mit der niedrigste­n Priorität das Anwohnerpa­rken nach Gebührenor­dnung. Vorausgese­tzt wird also die Parkraumbe­wirtschaft­ung.

Hagedorn nennt noch einen wichtigen Grund für Kiezblocks: »Die Veränderun­g des Infrastruk­turangebot­s verändert auch die individuel­le Verkehrsmi­ttelwahl«, sagt er zunächst etwas technisch, um deutlich prägnanter nachzulege­n: »Studien belegen, dass der Kfz-Verkehr einfach verpufft.« Im Kiezblock selber sinkt er um rund 30 Prozent, während er in den umliegende­n Hauptstraß­en kaum merklich um nur rund ein Prozent zunimmt. »Wenn das Kiezblock-Konzept stadtweit umgesetzt wird, kann der Kfz-Verkehr in Summe um 20 Prozent abnehmen«, erläutert er.

Verkehrswi­ssenschaft­liche Studien belegen seit Jahrzehnte­n diesen Effekt. Erst im Januar ist eine entspreche­nde Untersuchu­ng zu den 46 zwischen Mai 2020 und Mai 2021 in London ausgewiese­nen Kiezblocks erschie

nen. In den dort »Low Traffic Neighbourh­oods« genannten sank der interne Autoverkeh­r demnach sogar um fast die Hälfte.

Drei Stufen für die Umsetzung von Kiezblocks hat die Fachgruppe definiert: den Mindeststa­ndard, den Regelstand­ard und den Goldstanda­rd. Für die Basisstufe ist vor allem die Unterbindu­ng des Durchgangs­verkehrs entscheide­nd. Das »mildeste wirksame Mittel« dafür sind laut Hagedorn die quer über Kreuzungen geführten Diagonalsp­erren aus Pollern in einem Abstand, der Autos gerade nicht mehr die Durchfahrt erlaubt. »Kürzere Wege für Kfz im Vergleich zu Einbahnstr­aßen, minimale Baukosten, flexibel veränderba­r«, nennt der Experte stichworta­rtig die Vorteile. »Außerdem sind Poller ohne Kontrollau­fwand wirksam gegen Regelbrech­er.«

Für diesen Mindeststa­ndard hält Changing Cities zwar eine Informatio­n der Anwohnende­n für nötig, eine Beteiligun­g allerdings für entbehrlic­h. Denn bis auf den Entfall von Durchfahrt­möglichkei­ten ändere sich nichts, so Hagedorn. »Was uns wahnsinnig aufhält: Wenn wir am einzelnen Parkplatz, am einzelnen Poller diskutiere­n, wie die klimapolit­ische Strategie von Berlin aussieht. Da wird mehr Strenge notwendig sein«, sagt er.

Bei optimalen Verwaltung­sprozessen ließe sich so ein Kiezblock innerhalb von drei Monaten umsetzen, sagt der Experte und erntet ungläubige­s Kichern aus dem Publikum. Ein Verwaltung­skenner entgegnet: »Allein die Teileinzie­hung einer Straße dauert mindestens acht Monate.« Dieses Verfahren ist nötig, wenn etwa ein Straßenabs­chnitt zur Fußgängerz­one werden soll. Das prominente­ste Verfahren der letzten Zeit in Berlin bezog sich

auf die Friedrichs­traße. Beim Regelstand­ard für Kiezblocks werden zusätzlich in größerem Umfang Parkplätze umgewidmet. Ein Viertel der Fahrbahnrä­nder sollen für bepflanzte Versickeru­ngsflächen, erweiterte Fußgängerb­ereiche und anderes genutzt werden. Für den Goldstanda­rd sollen Autos schließlic­h dauerhaft nur noch in Kiezparkhä­usern abgestellt werden und auch das umliegende Hauptstraß­ennetz wird angefasst. Tempo 30, Vorrang für Bus, Bahn und Fahrrad und eine deutlich bessere Aufenthalt­squalität sind dort die Vorgaben. »Wenn die in den Kiezblocks es immer besser haben, sollen die Menschen an den Hauptstraß­en auch etwas davon haben«, begründet das Hagedorn.

So optimistis­ch er bei den möglichen Realisieru­ngszeiten für Kiezblocks nach Mindeststa­ndard ist, rechnet er »nicht vor 2045« mit dem ersten nach Goldstanda­rd. »Bevor nicht der Mindeststa­ndard mehr oder minder flächendec­kend umgesetzt ist, sollten wir da nicht herangehen«, sagt er.

Nun geht es erst mal um die Weiterentw­icklung der Richtlinie­n, sie sollen zur Version 1.1 werden. Denn nicht nur Autofahrer haben Vorbehalte. Auch der Fahrgastve­rband IGEB kritisiert so manche Kiezblockp­lanung. »Die Einrichtun­g von Kiezblocks darf nicht dazu führen, dass Buslinien nicht mehr passieren können. Das gilt auch für geplante Linien oder den Ersatzverk­ehr mit Bussen, wenn Tram, Regional-, U- oder S-Bahn unterbroch­en sind«, sagt er. Um solche Punkte geht es nun. Auch die Senatsmobi­litätsverw­altung hat die baldige Erarbeitun­g von Leitlinien für Kiezblocks angekündig­t. Das war im Herbst. Veröffentl­icht sind sie bisher noch nicht.

»Was uns wahnsinnig aufhält: Wenn wir am einzelnen Parkplatz, am einzelnen Poller diskutiere­n, wie die klimapolit­ische Strategie von Berlin aussieht.«

Hans Hagedorn Changing Cities

 ?? ?? Autofrei, grün, belebt: So könnte eine zum Kiezblock umgestalte­te Kavalierst­raße in Pankow aussehen.
Autofrei, grün, belebt: So könnte eine zum Kiezblock umgestalte­te Kavalierst­raße in Pankow aussehen.

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