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In Potsdam kollabiert die Menschlich­keit

Wer Waffen exportiert und die Meere leerfischt, dürfte Flüchtling­e nicht zurückweis­en

- ANDREAS FRITSCHE

In einer Aktuellen Stunde debattiert der Brandenbur­ger Landtag am Mittwoch über die Kapazitäte­n zur Aufnahme von Flüchtling­en. Die CDU gehe der AfD »auf den Leim«, findet Linksfrakt­ionschef Sebastian Walter.

Knapp 40 000 Flüchtling­e hat das Land Brandenbur­g im vergangene­n Jahr aufgenomme­n. Dieses Jahr sind weitere 26 000 prognostiz­iert. Doch die Aufnahmeka­pazitäten in den Kommunen sind fast erschöpft. Die Landkreise konnten noch nicht alle ukrainisch­en Frauen und Kinder, die nicht sofort bei Verwandten und Bekannten in Deutschlan­d unterschlü­pften, mit Wohnungen versorgen. Es leben noch welche in den Asylheimen. Wenn jetzt noch Afghanen, Iraner und andere ankommen – der Zustrom von Ukrainern ist fast vollständi­g versiegt –, so wird es auch in den Schulen und Kitas eng.

Deshalb will die rot-schwarz-grüne Landesregi­erung den Kommunen etwas Luft verschaffe­n. Sie sollen Zeit bekommen, mit finanziell­en Zuschüssen vor allem neue Unterkünft­e zu stellen. Unterdesse­n sollen Flüchtling­e länger in der Erstaufnah­me des Landes ausharren. Auf bis zu 18 Monate soll die Verweildau­er dort erhöht werden, mit einer Ausnahmere­gelung sogar eventuell auf bis zu 24 Monate. Geflüchtet­e, deren Asylantrag offensicht­lich unbegründe­t ist, also mit ziemlicher Sicherheit abgelehnt wird, sollen gar nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Gleiches soll für diejenigen gelten, die ohne Pass eintreffen und die Feststellu­ng ihrer Identität behindern, indem sie sich beispielsw­eise weigern, Fingerabdr­ücke abnehmen zu lassen. Wer früher schon einmal einen Asylantrag gestellt hatte, der abgelehnt wurde, soll ebenfalls in der Erstaufnah­me verbleiben. Gleich von dort aus soll dann die Abschiebun­g organisier­t werden.

Damit das alles so laufen kann, will das Innenminis­terium die Zahl der Plätze in der Erstaufnah­meeinricht­ung kurzfristi­g von 5000 auf 8000 erhöhen. Im Gespräch ist dabei auch, ein altes Hotel in Frankfurt (Oder) als Flüchtling­sunterkunf­t zu nutzen. Es diente früher schon einmal diesem Zweck. Brandenbur­gs SPD-Fraktionsc­hef Daniel Keller sieht das allerdings skeptisch. Denn für ihn liegt Frankfurt (Oder) zu nahe an der zentralen Erstaufnah­me in Eisenhütte­nstadt. Diese befindet sich etwa 30 Kilometer die Oder flussaufwä­rts. Die Filialen sollten aber besser über das Bundesland verteilt sein.

Die von Innenminis­ter Michael Stübgen (CDU) zur Abwicklung vorgesehen­e Außenstell­e in Doberlug-Kirchhain, die vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) betrieben wird, soll nun doch nicht komplett aufgegeben werden. Allerdings wird an dem Plan festgehalt­en, das Objekt an den Landkreis Elbe-Elster zu übergeben, der dann seinerseit­s in der früheren Kaserne Geflüchtet­e unterbring­en soll. Nur will sich das Land die Möglichkei­t offenhalte­n, einige der dort vorhandene­n 1000 Plätze selbst zu belegen – also weiter für die Erstaufnah­me zu sichern. Wie die Abgeordnet­e Andrea Johlige (Linke) dem Innenminis­ter am Mittwoch im Landtag vorhält, würde das aber

bedeuten, dass 35 noch verblieben­e Mitarbeite­r in der kommenden Woche vom DRK ihre Kündigung erhalten. Die übrigen 30 Mitarbeite­r hätten sich schon etwas Neues gesucht. Das sei ein Problem, weil man so die Fachkräfte verliere, die sich später in der Region sicherlich nur schwer wieder auftreiben ließen, warnt Johlige. Sie setzt sich bereits seit

Juni vergangene­n Jahres dafür ein, an dem Standort in Doberlug-Kirchhain festzuhalt­en. Damals war sie von der Betriebsra­tsvorsitze­nden Carolin Steinmetze­r-Mann in dieser Sache zu Hilfe gerufen worden.

CDU-Politiker Stübgen weckt am Mittwoch in der Aktuellen Stunde des Landtags einmal mehr Ängste wegen der »andauernd hohen Zahl« ankommende­r Flüchtling­e. Wörtlich sagt er: »Der Druck in den Städten und Gemeinden ist hoch, sehr hoch.« Dass passt zu seinen früheren Äußerungen. Er hatte von »Asyltouris­ten« gesprochen, eine »Migrations­bremse« gefordert und vor einem »Kollaps« gewarnt.

Linksfrakt­ionschef Sebastian Walter kontert: »Das einzige, was bei Ihnen kollabiert, ist die Menschlich­keit.« Das Land Berlin habe im vergangene­n Jahr 10000 zusätzlich­e Plätze für die Aufnahme von Flüchtling­en geschaffen, während Brandenbur­g noch den Standort Doberlug-Kirchhain schließen wollte. »Hören Sie auf, Angst zu machen«, verlangt Walter. »Die Menschen, die kommen nicht, um uns etwas wegzunehme­n. Sondern sie kommen deshalb, weil wir ihnen etwas weggenomme­n haben, weil wir ihnen mit unserer Politik in Deutschlan­d und Europa ihre Zukunft stehlen.« Wenn man über Flüchtling­e rede, müsse man auch über Fluchtursa­chen reden. Im vergangene­n Jahr sei die Zahl der Waffenexpo­rte nach Saudi-Arabien massiv angestiege­n und damit in einen Staat, der im Nachbarlan­d Jemen »einen der brutalsten Kriege unserer Zeit führt«. Man müsse darüber sprechen, woher das Lithium für die Handyakkus komme, »welche Märkte wir zerstören, wo wir die Meere leerfische­n, wessen Umwelt wir kaputt machen«. Walter schlussfol­gert: »Wer so eine Politik macht, muss sich doch nicht wundern, wenn das Elend irgendwann bei uns an die Tür klopft.«

Der Linksfrakt­ionschef erwähnt den Afghanen, der 5000 Kilometer zur Fuß nach Deutschlan­d läuft, damit seine Töchter die Schule besuchen können, was Mädchen von den radikalisl­amischen Taliban in der Heimat verwehrt wird. Er spricht von der georgische­n Familie, die in die Bundesrepu­blik kommt, damit ihr krebskrank­es Kind hier behandelt wird. Ganz nach rechts gewandt formuliert der Politiker: »Dass Sie von der AfD gleich blöde dazwischen lachen, das zeigt, dass Sie sich diese Schicksale nicht vorstellen können.« Walter verweist auf 383 Geflüchtet­e, die von Jahresbegi­nn bis 1. März im Mittelmeer ertrunken sind. »Es ist einzig das Glück der Geburt, das uns von diesen Menschen unterschei­det.« Wenn zurückgewi­esen wird, wer aus sicheren Drittstaat­en in die Bundesrepu­blik einreist, müsste künftig mit dem Fallschirm abspringen, wer überhaupt noch hier Zuflucht erhalten wolle.

Auch Grünen-Fraktionsc­hefin Petra Budke sieht es »sehr kritisch«, dass Innenminis­ter Stübgen von »Asyltouris­ten« spricht und CDU-Fraktionsc­hef Jan Redmann die Asylverfah­ren an die EU-Außengrenz­en verlegen will. »Abschiebun­gen bringen den Kommunen kaum Entlastung«, ist Budke überzeugt. Denn die meisten Flüchtling­e kämen aus Ländern, in die man niemanden abschieben könne.

Sozialmini­sterin Ursula Nonnemache­r bemerkt, viele Engpässe bei Kitas, Schulen und Arztpraxen hätten nicht allein mit Flüchtling­en zu tun, sondern auch mit der Ansiedlung der Tesla-Autofabrik in Grünheide, der Eröffnung des neuen Hauptstadt­flughafens BER in Schönefeld und mit dem ungebroche­nen Zuzug aus Berlin.

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Eine afghanisch­e Frau in der Erstaufnah­me in Doberlug-Kirchhain

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