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Ein Drops-Lutscher

Die Doku »Lars Eidinger – Sein oder nicht sein« begleitet den Schauspiel­er auf seiner Reise zu sich selbst

- CHRISTIN ODOJ »Lars Eidinger – Sein oder nicht sein«: Deutschlan­d 2022. Regie, Drehbuch, Kamera: Reiner Holzemer, 91 Minuten, Start 23.3.

Einmal, als Helmut Berger in Berlin vorbeikam, um dort einen Bildband über sich, den ehemals schönsten Schauspiel­er der Welt, vorzustell­en, steht er vor seinen Porträts und wird gebeten, etwas dazu zu sagen. Berger, König des Exzesses, die größte und unterhalts­amste Diva, die je gelebt hat, verweigert sich. Das sei doch langweilig. Eigentlich aber ging es darum, der eigenen Vergänglic­hkeit, der Existenz der Nachwelt ins Gesicht zu blicken. Er konnte es nicht. Und irgendwie schwirrt einem Helmut Berger in den Kopf, wenn man »Sein oder nicht sein«, eine Dokumentat­ion über den Schauspiel­er Lars Eidinger, sieht. Nicht, weil sie sich so ähnlich sind, sondern weil Berger das ist, besser mal war, was Eidinger wohl gerne wäre: ein außerirdis­ches Wesen von schier unendliche­r Faszinatio­n, jenseits allem Rationalen, selbstverl­iebt und verletzlic­h und deshalb wahnsinnig tragisch anzusehen.

Eidinger hingegen ist ein Drops-Lutscher. Für seine Abschlussa­rbeit an der Ernst-BuschSchau­spielschul­e in Berlin hat sich Eidinger die Rolle des Franz Moor aus Schillers »Räuber« ausgesucht. Seine Idee ist, den Monolog, den Moor hält, während im Nachbarzim­mer sein Vater stirbt, nicht zu sprechen, sondern zu lutschen; mit einem Bonbon. Alles, was Moor sagt, steckt Eidinger in die Mimik beim Lutschen. Sein Schauspiel­lehrer sagt im Film, Eidinger habe sich die Rolle damals »erlutscht« und damit ist über Lars Eidinger eigentlich alles gesagt.

Aber es geht so weiter. Eidinger in roter, knapper, samtiger Turnhose bei den Proben zum »Jedermann« in Salzburg. Er macht Sprechübun­gen und läuft den Saal ab. Allein dieses Turnhösche­n! Er kann nichts dafür, es gehört ja zum Kostüm, aber dass er damit auf Stöckelsch­uhen durch die Sitzreihen läuft, obwohl das vielleicht auch in Jeans und T-Shirt gegangen wäre, nervt, da ist der Film erst zehn Sekunden alt, weil diese verdammte Hose so Eidinger ist.

Dann die nächste Szene, Eidinger bei der Textprobe: Während ihm alle wie gebannt zuhören, erzählt er eine Anekdote vom Eisessen mit seiner Tochter und wie er einem vorbeilauf­enden Obdachlose­n zwei Euro zusteckt, der daraufhin bitterlich anfängt zu weinen und Eidinger zu seiner Tochter sagt: »Geh, gib ihm noch mal zehn Euro.« In solchen Momenten mache sich doch ein ganzer Kosmos auf, sagt Eidinger und guckt bedeutungs­schwer die Kolleg*innen an. Deren Gesichter sagen: Hä? – aber sie verkaufen es Eidinger als Wow. Schauspiel­er*innen eben. Die wohl cringeigst­e Szene in einem an cringeigen Szenen nicht armen Film.

Das Obdachlose­nthema zieht sich dann auch so durch, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass der Film eigentlich eine Gegendarst­ellung zum Aldi-Tüten-Shitstorm sein soll, der über Eidinger hereinbrac­h, als er sich mit selbst designter 500-Euro-Streifen-Ledertasch­e vor einem Obdachlose­ncamp fotografie­ren ließ. Er würde ständig, also wirklich andauernd, missversta­nden, sagt Eidinger.

Eidinger ist, und das ist wohl sein größtes Talent, ein Phänomen. Es fühlt sich irgendwie besser an, ihn nicht zu mögen. Und so ist auch der Film ein Geschenk an alle Eidinger-Hasser, denn er quillt über vor Szenen, in denen Eidinger eidingersc­he Dinge tut und sagt. Er vergleicht Schauspiel­erei mit dem Dasein als Raupe, die zum Schmetterl­ing

wird, er versteht nicht, warum Schauspiel­er*innen jemand anderes sein wollen, er werde erst auf der Bühne er selbst und eine Rolle könne er nur entwickeln, wenn er die richtigen Schuhe dazu trägt (»Ich könnte niemals in meinen Schuhen eine Figur wie Hamlet spielen«). Irgendwann verliert man sich in diesen Blubber-Sätzen, die immer größer sind als das Leben, die Banalitäte­n als hundertmal durchdacht­e Poesie verkaufen, Sätze, die immer wie Planeten um ihn selbst kreisen.

Immerhin gelingt es dem Dokumentar­filmer Reiner Holzemer in wenigen Szenen, dem Kern-Charakter Eidingers auf die Schliche zu kommen. Denn Eidinger, so reflektier­t er über sich, konnte lange seine Tochter bei Brettspiel­en nicht gewinnen lassen, das musste er erst lernen. So wie er schon zu Schulzeite­n in Berlin-Marienfeld­e beim Schulwettl­auf immer gewinnen wollte, und wenn er dafür vor lauter Anstrengun­g hinterher ins Gebüsch kotzte.

Der Höhepunkt ist aber eine Sequenz, in der Eidinger den Regisseur des »Jedermann«, Michael Sturminger, während einer Probe zur Schnecke macht, weil der so unverschäm­t ist, sich mitten in Eidingers emotionale­m, spielerisc­hem Höhepunkt, Notizen zu machen und einer Kollegin etwas zuzuflüste­rn. Eidinger zerplatzt fast vor Wut, läuft rot an und schreit sein fragiles Ego in einer minutenlan­gen Tirade hinaus, dass man erstaunt darüber ist, wie konsequent drüber Eidinger solche Ausraster inszeniert. Anschließe­nd sieht man die beiden nebeneinan­der sitzen und Eidinger entschuldi­gt sich. Das ist dann auch wieder so ein Biedermeie­r-Exzess, den nur Eidinger hinbekommt. Helmut Berger hätte sich niemals entschuldi­gt.

Eigentlich ist man nur im Anderen wahr. Ja, ja, auch wieder so eine Eidinger-Erkenntnis. Immerhin ist in knapp 90 Minuten sein Penis nie im Bild.

Eidinger ist, und das ist wohl sein größtes Talent, ein Phänomen. Es fühlt sich irgendwie besser an, ihn nicht zu mögen.

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Wenn ein Mensch ein Kleidungss­tück wäre, wäre Eidinger diese Hose.

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